Tatsächlich! Es waren leise Rufe, die sich wie ein letzter verzweifelter Versuch anhörten. Dort oben mussten sich Menschen in einer ausweglosen Situation befinden!
"Da sind Leute, die unsere Hilfe brauchen", rief Nadja.
"Mit uns können die nicht rechnen", meinte der Kutscher, "dabei kann alles draufgehen - Pferde und Wagen."
"Dann geh ich zu Fuß", erwiderte Michael Strogoff.
"Ich komme mit", rief Nadja.
"Nein, Nadja!" Michael Strogoff nahm das Mädchen zur Seite. "Der Kutscher bleibt auch hier und ich möchte ihn nicht allein lassen."
"Wie du meinst. Ich warte hier in der Höhle, bis du wieder kommst."
Er drückte Nadja die Hand und verschwand hinter der Kurve. Die Straße verlief in Serpentinen und der Sturm tobte nach wie vor ohne Unterlass. Nur der Regen hatte etwas nachgelassen. Michael Strogoff kämpfte sich die Straße hinauf. Es war nicht nur der Wunsch zu helfen, der ihn trieb, sondern auch die Neugierde. Wer waren diese Menschen, die schon seit Perm mit ihrem Gespann, einer sogenannten Telega, vor ihnen herritten?
Er lauschte angespannt. Schreie waren keine mehr zu hören, aber er vernahm Stimmen, deren Worte mit jedem Schritt besser zu verstehen waren.
"Kommst du zurück, du alter Gauner! Auf der nächsten Station rechnen wir ab, du Höllenkutscher! Uns einfach hier zurückzulassen."
"Und so was muss ich mir bieten lassen! Ich als Brite in offizieller Mission. Ich werde mich bei der Botschaft beschweren."
Michael Strogoff erkannte die beiden Reporter, die mit ihm auf der "Kaukasus" gefahren waren. Während der Brite vor Wut schäumte, machte der Franzosen einen weitaus gelasseneren Eindruck.
"Wenn man es genau betrachtet, ist die Situation schon komisch", lachte Alcide Jolivet.
"Was! Sie wagen es, über diese Katastrophe noch zu lachen?"
"Was soll ich den sonst tun? Unser Kutscher ist mit dem vorderen Teil unserer Telega auf und davon, vermutlich sogar, ohne es zu bemerken - und wir sitzen auf dem hinteren Teil, das im Schlamm steckt. Haben Sie schon einmal so etwas Komisches erlebt?"
Michael Strogoff hatte sich vollends zu den beiden Männern durchgekämpft und machte sich bemerkbar: "Guten Tag, meine Herren. Wie es scheint, können Sie Hilfe gebrauchen?"
"Ah, Bonjour Monsieur. Sie schickt der Himmel. Kennen wir uns nicht bereits? Mein Name ist Alcide Jolivet und dieser freundliche Herr an meiner Seite ist Mister Blount."
"Ganz recht. Wir sind uns bereits auf der Wolga begegnet. Ich bin Nikolaus Korpanoff - Kaufmann aus Irkutsk. Ich reise mit meiner Schwester und wir haben ihre Hilferufe gehört. Offenbar ist Ihre Telega auseinandergebrochen?"
Alcide plapperte fröhlich und erklärte, was passiert war.
"Ich finde das überhaupt nicht komisch", brummte der Engländer. "Wie sollen wir aus dieser Misere Ihrer Meinung nach wieder herauskommen?"
"Nichts einfacher, als das", lachte der Franzose, "Sie spannen sich selbst vor dieses Kutschenteil und ich nehme Peitsche und Zügel und spiele den Kutscher."
"Mister Jolivet! Dieser Scherz geht mir entschieden zu weit."
"Meine Herren", unterbrach Michael Strogoff die beiden Reporter, "ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen. Wir haben beinahe die Passhöhe erreicht. Ab hier geht die Fahrt fast nur noch bergab. Ich trete Ihnen eines meiner Pferde ab, das können wir vor Ihre restliche Telega spannen. So erreichen wir, wenn alles gut geht, morgen alle miteinander Jekaterinburg."
"Herr Korpanoff", sagte der Franzose, "das ist ein sehr großzügiges Angebot!"
"Also meine Herren", drängte Michael Strogoff, "kommen Sie bitte mit zu meinem Wagen."
Auf dem Weg nach unten verlor Alcide Jolivet nicht für einen Moment seine glänzende Laune und unser Kurier erfuhr, dass die beiden Kriegsberichterstatter waren, die so schnell wie möglich zum Kriegsschauplatz wollten. Da sie bis Ischim denselben Weg hatten, bot Michael Strogoff notgedrungen an, bis dorthin zusammen zu reisen.
In Ischim wollten die beiden Reporter einen Halt machen, während er mit Nadja sofort nach Omsk weiterreisen musste. Ganz nebenbei erkundigte er sich, ob die Herren Neuigkeiten von der Tatareninvasion wussten.
"Leider nur so viel", erwiderte Alcide Jolivet, "wie in Perm gesprochen wurde. Die Tatarentruppen von Feofar-Khan stoßen in Eilmärschen am Fluss Irtysch entlang nach Omsk vor. Sie werden sich beeilen müssen, wenn Sie noch vorher dort sein wollen!"
"Da haben Sie recht", bemerkte Michael Strogoff.
"Außerdem redet man davon, es sei dem Oberst Ogareff gelungen, als Zigeuner verkleidet über die Grenze zu kommen, und er versuche jetzt, sich dem Tatarenchef anzuschließen."
Michael Strogoff erinnerte sich an den alten Zigeuner auf dem Dampfer, dessen Gesicht er nicht deutlich erkennen konnte. Und da war diese Frau, die ihn so sonderbar angesehen hatte. Während er versuchte die Neuigkeiten in einen Zusammenhang zu bringen, krachte aus der Richtung, in der sein Wagen stand, ein Schuss.
"Schneller, meine Herren!", rief er.
Wenige Augenblicke später bogen sie um die Kurve, hinter der der Tarantas stand. Da brummte es plötzlich und ein zweiter Schuss krachte unter dem Felsendach hervor.
"Ein Bär!", schrie Michael Strogoff, der dieses Brummen nur zu gut kannte.
Er riss sein Messer heraus und rannte zu Nadja. Mit einem Sprung stand er zwischen dem Bären und dem Mädchen. Seine Hand stieß hart zu und zog das Messer einmal von unten nach oben. Das gewaltige Tier sackte zu Boden.
Das war eine Probe des Könnens der sibirischen Jäger, die auf diese Art das Tier erlegten, ohne das kostbare Fell zu beschädigen.
"Bist du verletzt?", fragte er das Mädchen.
"Nein, es ist alles in Ordnung. Dieses Tier stand plötzlich da. Die Pferde scheuten und zwei rissen sich sogar los. Der Kutscher ist ihnen nachgerannt. Als ich erkannte, dass er auf unser drittes Pferd losgehen wollte, habe ich mich ihm in den Weg gestellt und geschossen."
"Donnerwetter", platzte der Franzose heraus, "für einen einfachen Kaufmann führen Sie eine beachtlich gute Klinge!"
"In Sibirien muss man von allem ein bisschen können."
Die Reporter stellten sich dem Mädchen vor und Alcide Jolivet meinte:
"Sie passen gut zu Ihrem Bruder. Wenn ich ein Bär wäre, würde ich Ihnen beiden bestimmt aus dem Weg gehen."
In dem Moment kam auch der Kutscher wieder zurück. Es war ihm gelungen, beide Pferde einzufangen. Michael Strogoff erklärte ihm die Situation und so machte sich die Gruppe eilig auf den Weg, um eines der Pferde vor die im Schlamm steckende halbe Telega zu spannen.
Mit dem ersten Schimmer der Morgendämmerung erreichte man die Telega. Mit einer Pferdestärke war es kein Problem, sie zu befreien. So setzten sich die beiden Reporter auf ihre kuriose halbe Kutsche und beide Wagen fuhren hintereinander los.
Sechs Stunden später kamen sie ohne weitere Schwierigkeiten in Jekaterinburg an.
Alcide Jolivet holte sein Notizbuch hervor und notierte: Eine Telega ist ein in Russland sehr beliebter Reisewagen; sie fährt auf vier Rädern ab und kommt auf zwei Rädern an.