Tomsk wurde 1604 fast genau im Mittelpunkt Sibiriens gegründet. Das bergige Umland durchzogen Adern aus Platin, Gold, Silber und Kupfer. So gelangte der Ort schnell zu Wohlstand und Tomsk konnte sich mit seinem Prunk gut und gerne mit den europäischen Hauptstädten messen.
Hier wollte nun der Emir die Parade seiner siegreichen Armee abhalten. Zu diesem Anlass sollte ein Fest mit Tanz, Gesang und Spielen arrangiert werden. Die Feierlichkeiten sollten auf einem Felsplateau hundert Meter oberhalb des Flusses Tom stattfinden, das mit vornehmen Häusern und Kirchen bebaut war.
Es war vier Uhr, als der Emir unter Fanfarengeschmetter Einzug hielt. Feofar-Khan ritt auf seinem Lieblingsross, an dessen Kopfschmuck Diamanten funkelten. Der Emir stieg vom Pferd und alle militärischen Würdenträger, die mitgekommen waren, begleiteten ihn auf das Podest, über dessen Mitte ein prachtvolles Zeltdach gespannt war.
Kurze Zeit später wurde Iwan Ogareff mit Trompetenstößen gemeldet. Im Gegensatz zu Feofar-Khan trug er eine schlichte tatarische Uniform.
Unter den zahlreichen Zuschauern befanden sich auch die beiden Reporter, die mit einer gewissen Zufriedenheit die Striemen, die sich quer über das Gesicht des Obersts zogen, zur Kenntnis nahmen.
Auf dem Programm standen Tanzdarbietungen und Theatervorführungen. Doch bevor es soweit war, sollte zuerst eine äußerst unangenehme Szene kommen. Zum vollständigen Triumph der Sieger gehörte die öffentliche Demütigung der Besiegten. Also wurden einige hundert Gefangene mit Knuten auf den freien Platz gepeitscht.
In der ersten Reihe dieser Gefangenen ging Michael Strogoff. Marfa Strogoff und Nadja liefen weiter hinten. Die alte Sibirierin war totenblass. Sie machte sich auf ein schreckliches Ende ihres Sohnes gefasst.
Wie gerne hätte sie ihren Sohn um Verzeihung gebeten, wegen des Vorfalls in Omsk. Miachel quälte allerdings nur der Gedanke, dass seine Mutter und Nadja mit ansehen mussten, wie er hingerichtet wurde.
Unterdessen zogen die Gefangenen am Emir vorbei. Direkt hinter Nadja lief Marfa Strogoff. Als sie sich nicht schnell genug vor Feofar-Khan niederkniete, schlug ihr ein Soldat die Lanze auf den Rücken. Marfa Strogoff fiel zu Boden. Ihr Sohn wollte sich auf den Kerl stürzen, seine Wachleute konnten ihn kaum festhalten.
Marfa stand auf und wurde weitergetrieben - da rief Iwan Ogareff:
"Die Alte bleibt hier!"
Nadja wurde in den Haufen der Gefangenen zurückgestoßen. Iwan Ogareff hatte sie nicht erkannt. Dann wurde Michael Strogoff vor den Emir geführt. Er blieb vor ihm stehen und schaute ihm ins Gesicht.
"Die Stirn in den Sand!", schrie Iwan Ogareff ihn an.
"Nein!", antwortete Michael Strogoff.
Iwan Ogareff ging auf den Kurier zu und sagte:
"Du wirst sterben!"
"Das weiß ich! Und du wirst ein Leben lang die Narben des Verräters auf der Stirn tragen."
Der Oberst wurde bei diesen Worten blass.
"Wer ist dieser Gefangene?", fragte der Emir mit gefährlich leiser Stimme.
"Ein russischer Spion!", erwiderte Iwan Ogareff.
Der Oberst wusste, dass Spionen die schlimmsten Strafen drohten. Der Emir hob die Hand - die Menge verbeugte sich. Dann deutete er auf den Koran, der ihm sofort gebracht wurde. Er öffnete das Buch und legte seinen Finger willkürlich auf irgendeine Textstelle.
Der Zufall, oder besser gesagt, Gott selbst, sollte über das Schicksal Michael Strogoffs entscheiden. Die Völker Zentralasiens nannten diese Gerichtsart "Fal": Der Vers, auf den der Finger zeigt, wird ausgelegt und vollstreckt.
"Und er wird die Dinge der Erde nicht mehr sehen", las er mit lauter Stimme vor. "Russenspion - du bist gekommen, um zu sehen, was hier in unserem Lager geschieht. Also schau es dir an! Schau dich noch einmal um, mit allen deinen Augen!"
Marfa Strogoff war unter der psychischen Belastung zusammengebrochen. Ihr Sohn blieb mit versteinerter Miene vor dem Thronsessel stehen und musste das, was nun folgte über sich ergehen lassen.
Die Vorführungen sollten beginnen. Nacheinander traten verschiedene Tänzerinnen auf. Nach den Perserinnen folgte eine Truppe, die nicht nur Michael Strogoff bekannt vorkam.
"Das sind doch die Zigeunermädchen aus Nishny-Nowgorod!", sagte Harry Blount zu seinem Kollegen.
"Tatsächlich. Ich möchte wetten, dass sie hier als Spione mit ihren Augen mehr verdienen, als mit ihren Beinen."
Mit dieser Vermutung hatte Alcide Jolivet, wie wir wissen, durchaus recht. Sangarre selbst tanzte nicht mit, sondern thronte, wie eine Königin inmitten ihrer Tänzerinnen.
In einer kurzen Pause, die dem Auftriff folgte, hörte Michael Strogoff eine drohende Stimme hinter sich und spürte eine schwere Hand auf seiner Schulter:
"Schau dich noch einmal um, mit allen deinen Augen!"
Der Mann, der dies sagte, war der Vollstrecker des Emirs. Er hielt einen Säbel aus bestem Stahl in der Faust. Neben ihm hatten einige Soldaten ein Becken voller glühender Kohle aufgestellt.
Etwas später gab der Emir ein Signal und die Feierlichkeiten verstummten. Michael Strogoff wurde mitten auf den Platz geführt.
"Blount, ich schlage vor, wir gehen jetzt. Ich möchte auf keinen Fall sehen, wie dieser großartige Kerl von diesen Barbaren hingerichtet wird.", sagte Alcide Jolivet.
"Können wir denn nichts für den armen Kerl tun?"
"Leider nichts."
Den Reportern wurde schwer ums Herz, denn sie erinnerten sich, wie Michael Strogoff ihnen im Uralgebirge das Leben gerettet hatte. Sie gingen zurück in die Stadt und verließen Tomsk auf dem schnellsten Weg.
Inzwischen stand Michael Strogoff aufrecht da und schaute den Emir stolz in die Augen. Er erwartete den Tod, aber keiner hätte ein Zeichen von Schwäche an ihm entdecken können.
"Du bist ein russischer Spion. Du hast gesehen, was du wolltest. In einer Minute werden sich deine Augen schließen - für immer!", sagte Feofar-Khan.
Michael Strogoff sollte also nicht getötet werden, sondern geblendet. Der Verlust des Augenlichts mochte schlimmer sein, als der des Lebens. Er war zu ewiger Blindheit verdammt. Regungslos nahm er das Urteil hin.
Sein hasserfüllter Blick ging zu Iwan Ogareff und er rief:
"Verräter! Dein Gesicht will ich mir für immer einprägen!"
Aber Michael Strogoff täuschte sich. Seine Augen sollten sich nicht mit dieser Erinnerung schließen. Marfa Strogoff kam näher.
"Mutter", rief er, "ja - dich will ich zum letzten Mal anschauen. Bleib hier stehen - vor mir! Dein liebes Gesicht möchte ich sehen."
Der Henker erschien. Er trug seinen Säbel in der Hand, den er aus den glühenden Kohlen gezogen hatte. Nach altem Tatarenbrauch sollte Michael Strogoff eine weißglühende Säbelklinge dicht vor den Augen vorbeigezogen werden.
Marfa Strogoff blickte ihren Sohn an und streckte ihm ihre Arme entgegen.
Die glühende Klinge streifte Michael Strogoffs Augen.
Ein Verzweiflungsschrei, die alte Marfa brach zusammen.
Michael Strogoff war blind.
Das Schauspiel war zu Ende. Voller Hohn hielt Iwan Ogareff das Schreiben des Zaren vor die Augen des Kuriers und lachte laut. Dann zog sich der gesamte Hofstaat zurück. Michael Strogoff war allein. Wenige Schritte vor ihm lag seine Mutter auf der Erde - ohne Bewusstsein. War sie tot? Tastend ging er in die Richtung, wo er seine Mutter vermutete. Er fand ihre Hand und legte sein Ohr auf ihre Brust. Ihr Herz schlug. Er flüsterte ihr ein paar Worte zu und richtete sich auf.
Die gefesselten Hände nach vorn gestreckt, lief er vom Platz. Hinter einer Mauer versteckt erwartete ihn Nadja. Im allgemeinen Festtreiben war es ihr, wie einigen Gefangenen, gelungen zu entkommen. Sie hatte sich versteckt, bis der Platz leer war.
So schwer es ihr gefallen war, aus ihrem Schlupfwinkel alles mit anzusehen, so trieb sie nur ein Gedanke: Michael braucht mich jetzt. Ich werde ihn nach Irkutsk führen.
Sie schnitt dem blinden Michael Strogoff die Fesseln durch und gab sich zu erkennen.
"Bruder!"
"Nadja … du …"
"Ja! Komm! Meine Augen gehören jetzt dir!"
Ein halbe Stunde später, hatten die beiden Tomsk verlassen.