Im Gegensatz zu den beiden Reportern, die Iwan Ogareff ihre Entlassung aus der Gefangenschaft verdankten, brachte dessen Anwesenheit für den Kurier ernste Gefahren mit sich.
Doch bald entdeckte er auch einen positiven Aspekt. Die Verlegung des Hauptquartiers nach Tomsk wurde bekannt und damit erfüllte sich Michael Strogoffs Hoffnung, seinem Ziel endlich näher zu kommen.
Am Nachmittag des 12. Augusts wurde das Signal zum Abmarsch gegeben. Die Alten und die Kinder, die der Geschwindigkeit nicht Stand halten konnten, wurden an Pferde gebunden und hinterhergeschleift. Wer zu Boden fiel, wurde zertrampelt. Die Bedingungen konnten menschenunwürdiger nicht sein.
Eine alte Frau, die bei ihren Mitgefangenen durch ihre Schweigsamkeit auffiel, musste den Transport ebenfalls zu Fuß mitmachen. Niemand versuchte, ihr den Marsch auf irgendeine Weise zu erleichtern. Aber der glückliche Zufall stellte ihr ein junges couragiertes Mädchen an die Seite.
Schnell bildete sich zwischen den beiden Frauen ein stummes geheimnisvolles Band der Zusammengehörigkeit. Nadja, sie war das Mädchen, half der Frau, ohne zu wissen, dass sie die Mutter ihres so sehnlichst vermissten Reisepartners vor sich hatte.
Immer wieder hatte sie das Bild vor Augen, wie ihr Bruder, vom Lanzenstoß getroffen, in den Wellen des Irtysch verschwand. Warum ließ Gott es zu, dass dieser Mann ein solches Ende nahm? Wahrscheinlich war es die Trauer, die die beiden Frauen verband. Auch wenn sie nicht wussten, dass sie sich um denselben Mann sorgten.
An steilen Wegstrecken reichte Nadja der alten Marfa den Arm und stützte sie. Wenn es Essen gab, teilte sie ihre Portion.
Eines abends hielt das junge Mädchen das Schweigen nicht mehr aus, und begann Marfa Strogoff ihre ganze Geschichte zu erzählen. Die alte Sibirierin hörte aufmerksam zu.
"Du bist sicher, dass der Mann Nikolaus Korpanoff hieß? Erzähl mir mehr von ihm. Ich kenne nur einen Mann, dem ich all das, was du erzählt hast, zutrauen würde."
"Das war sein Name. Warum sollte er mich anlügen?"
Marfa ließ sich alles ganz genau berichten und als Nadja ihr das Aussehen beschrieb, hatte sie keinen Zweifel mehr.
"Nadja, du redest über meinen Sohn. Ich darf dir nicht alles sagen, was ich nun weiß. Er muss eine Pflicht erfüllen, die wichtiger ist, als alles andere."
Und für sich selbst dachte sie: Mein braver Sohn, ich werde dich niemals verraten. Keine Folter wird mich dazu bringen.
Marfa Strogoff hätte mit wenigen Worten Nadjas Sorgen vertreiben könne. Sie wusste, dass ihr Sohn noch lebte und nicht in den Wellen den Irtysch umgekommen war. Aber sie sagte nur:
"Gib die Hoffnung nicht auf, meine Kind! Das Glück wird zu dir zurückkehren. Du wirst zu deinem Vater kommen. Und Gott hat Michael beschützt, das spüre ich."
So gab es nun zwischen Marfa Strogoff und Nadja keine Unklarheiten mehr. Die alte Sibirierin hatte die wesentlichen Zusammenhänge durchschaut.
Am 15. August erreichte der Zug das Dorf Zabediero, das ungefähr dreißig Kilometer von Tomsk entfernt war. Hier wurde das Lager unter größten Sicherheitsvorkehrungen aufgeschlagen. Die Gefangenen lagerten am Ufer des Tom. Der Emir hatte befohlen, am nächsten Tag das Heer in Tomsk einmarschieren zu lassen.
Die Sonne war schon verschwunden, als Nadja Marfa Strogoff zum Ufer des Tom hinunterführte. Nadja schöpfte mit ihrer Hand Wasser und führte sie zum Mund der alten Frau. Das erfrischende Wasser brachte neues Leben.
Als sie die Böschung wieder hinaufklettern wollten, wandte sich Nadja plötzlich um und stieß einen schwachen Schrei aus. Wenige Schritte vor ihr stand Michael Strogoff. Ja - er war es!
Michael Strogoff hörte den Aufschrei. Aber er zwang sich zur Ruhe. Nur keinen Verdacht aufkommen lassen! Er hatte beide Frauen erkannt, dreht sich langsam um, und ging weg. Nadja wollte ihm hinterher, doch Marfa hielt sie zurück.
"Er hat seine Gründe, dass er vorgibt, uns nicht zu kennen."
Es waren Höllenqualen, die der Kurier in dieser Nacht durchlitt. Die beiden Frauen, die ihm so wichtig waren, schliefen nur wenige Meter von ihnen entfernt, aber er hatte geschworen, seine Mutter nicht zu sehen. Es war für alle viel zu gefährlich.
Obwohl diese Szene nur wenige Sekunden gedauert hatte, wurde sie von Sangarre, der Spionin Iwan Ogareffs, beobachtet. Aus der raschen Handbewegung der Alten und dem Flüstern der Frauen schloss sie, dass der gesuchte Kurier im Lager sein musste.
Die Zigeunerin hatte nur einen Gedanken: Sie machte sich augenblicklich auf den Weg zum Quartier des Obersts und meldete ihm ihre Beobachtungen.
"Du täuscht dich auch nicht?", fragte der aufgeregt.
"Nein. Ich bin mir ganz sicher."
"Wir haben einige tausend Gefangene im Lager! Wir wissen nicht, wie dieser Michael Strogoff aussieht."
"Wir nicht", meinte Sangarre und in ihren Augen glomm böse Freude auf, "aber seine Mutter kennt ihn. Das ist der richtige Augenblick, um sie zum Sprechen zu bringen."
"Du hast recht. Morgen wird sie sprechen."
Am folgenden Tag, dem 16. August, schmetterten rings um das Lager die Fanfaren. Iwan Ogareff ritt ins Lager. Sein Gesicht schien noch finsterer als sonst. Versteckt in einer Gruppe Gefangener, sah Michael Strogoff seinen Erzfeind vorbeireiten. Er hatte die unbestimmte Ahnung, dass Schlimmes bevorstand.
Auf ein Zeichen des Obersts ging Sangarre zu der Gruppe, in der Marfa Strogoff stand. Die alte Sibirierin sah sie kommen und sagte ganz leise zu Nadja:
"Du kennst mich nicht. Ganz gleich, was jetzt passiert. Kein Wort!"
Sangarre stieß Marfa auf den freien Platz, wo Iwan Ogareff stand. Das Gespräch begann, und erinnerte an das Verhör in der Poststation von Omsk. Nach ein paar Minuten ballte der Oberst seine Fäuste und rief:
"Hör zu Alte: Dein Sohn ist hier - und du wirst ihn mir sofort zeigen!"
"Nein!"
"Ich lasse alle Gefangenen aus Omsk und Kolywan an dir vorbeilaufen. Wenn du mir deinen Sohn nicht zeigst, erwarten dich so viele Knutenhiebe, wie Gefangene vorbeigekommen sind."
Nadja hatte alles mit angehört. Sie wusste jetzt, wer Nikolaus Korpanoff in Wirklichkeit war, und warum er unerkannt reisen musste.
Auf Befehl des Obersts marschierten nun alle Gefangenen vorbei. Michael war einer der letzten. Er blieb nach außen völlig ruhig. Keiner konnte das Blut in seiner hohlen Hand sehen, das von seinen Fingernägeln stammte.
Marfa Strogoff schwieg!
"Die Knute!", schrie Iwan Ogareff.
Zwei Soldaten packten die alte Frau und zwangen sie auf die Knie. Marfa Strogoff war bereit zu sterben. Ihr war klar, dass sie die Schläge niemals überleben würde. Man riss ihr das Kleid vom Rücken. Der Soldat stand bereit und wartete auf ein Zeichen.
"Gib ihr die Knute!", sagte Iwan Ogareff.
Der erste Schlag pfiff. Aber bevor er traf, hatte eine starke Faust dem Tataren die Peitsche aus der Hand gerissen. Michael Strogoff war da. Er konnte es nicht mir ansehen.
"Michael Strogoff!", rief Iwan Ogareff siegesbewusst. "Das ist ja der Kerl von Ischim!"
"Genau!", sagte der Kurier.
Hob die Knute und zog sie Iwan Ogareff mehrere Male kreuz und quer übers Gesicht.
"So, das war für Ischim!"
"Gut zurückgegeben!", hörte man eine Stimme aus dem Hintergrund, die allerdings im allgemeinen Tumult unterging.
Ein Rudel Soldaten fiel über Michael Strogoff her und wollte ihn sofort totschlagen. Aber Iwan Ogareff, der vor Wut und Schmerzen laut aufgeschrien hatte, hielt sie durch eine Handbewegung zurück.
"Durchsucht ihn! Er wird dem Emir vorgeführt!"
Auf der Brust fanden sie den Brief mit dem Siegel des Zaren. Der Kurier hatte nicht mehr genug Zeit gehabt, ihn zu vernichten. Man reichte dem Oberst das Schreiben.
Der Mann, der vorhin aus der Menge gerufen hatte, war Alcide Jolivet. Sein Kollege und er hatten nicht ohne Anerkennung die Revanche von Ischim beobachtet. Allerdings waren sie sich einig, dass es für den Mann jetzt nicht gut aussah.
"Mich würde interessieren, was in dem Brief steht", meinte der Franzose.
Iwan Ogareff hatte das Blut aus dem Gesicht gewischt und dann das Siegel des Schreibens aufgebrochen. Er las es mehrmals aufmerksam durch, als wolle er sich jedes Wort einprägen. Schließlich gab er Befehl Michael Strogoff dreifach zu fesseln und mit den Gefangenen nach Tomsk zu schleppen.