Geografisch gesehen liegt Jekaterinburg in Asien. Allerdings gehört es zum Verwaltungsgebiet Perm und ist somit ein russischer Keil im sibirischen Hoheitsgebiet.
In der gegenwärtigen Situation gab es nicht viele, die freiwillig nach Sibirien reisten und so war es ein Leichtes, für die beiden Reporter einen neuen Wagen zu finden. Der schlaue Franzose trieb in kürzester Zeit einen Tarantas auf und so konnten beide Wagen bereits zur Mittagszeit Jekaterinburg wieder verlassen.
Michael Strogoff hatte den Reportern erklärt, dass er mit seiner Schwester auf schnellstem Weg zur Mutter nach Omsk musste, und sie deshalb ohne Pause Tag und Nacht durchfahren würden.
"Genauso werden wir es auch halten. Zumindest bis Ischim", bemerkte Harry Blount.
Die Fahrt führte über endlose Steppen. Die obere Schicht der Erde war karg und steinig. Dafür lagen in der Tiefe unerschöpfliche Schätze. Eisen, Kupfer, Gold, Platin. Deshalb standen überall Hütten, Bergwerke und Minen, aber fast nirgendwo ein Bauernhof.
Im vorderen Wagen hingen Michael und Nadja ihren Gedanken nach und im hinteren Wagen plapperte der Franzose dem Engländer die Ohren voll. Nur zu den Hauptmahlzeiten setzte man sich an einen Tisch, ansonsten vollzog sich der Pferdewechsel so schnell wie möglich.
Michael Strogoff trieb stets zur Eile und legte meist sogar selbst Hand an. So verlief die Reise planmäßig. Wenn sie in größeren Städten Halt machten, erfuhren Sie Neuigkeiten, über den Vormarsch der Tataren. Offenbar sollte sich Iwan Ogareff bald mit Feofar-Khan treffen.
Dem Kurier war klar, dass die Truppen dann vermehrt in Richtung Osten marschieren würden. Schließlich kannte er Ogareffs Mission, den Bruder des Zaren, der sich in Irkutsk befand, töten zu wollen.
Am Morgen des 23. Juli waren die beiden Tarantase noch dreißig Kilometer von Ischim entfernt. Da bemerkte Michael Strogoff vor ihm eine Staubwolke, die offensichtlich von einem Gespann stammte, das vor ihnen fuhr.
Da ihre Pferde noch recht frisch waren, holten sie das Gespann rasch ein. Es war eine mit einer dicken Staubkruste überzogene Postkutsche, auch Berline genannt, die offenbar einen weiten Weg hinter sich hatte.
Michel Strogoff kam sofort der Gedanke, die Berline zu überholen, damit er auf der nächsten Station garantiert frische Pferde hatte. Die beiden Kutscher trieben die Tarantase an und eine halbe Stunde später hatten sie die Berline bereits weit hinter sich gelassen.
Auf der Station angekommen, verlangte der Kurier sofort nach frischen Pferden. Da zeigte sich, dass es schlau war, als Erster in Ischim angekommen zu sein, weil nur noch drei frische Pferde zur Verfügung standen.
Der Postmeister gab Befehl, sie anzuspannen. Die beiden Reporter, die ja ohnehin in Ischim bleiben wollten, ließen ihren Wagen in einem Schuppen abstellen. Zehn Minuten später konnte der Kurier weiterfahren. Er wandte sich an den Franzosen und den Engländer und verabschiedete sich. Die Reporter drückten ihm die Hand - da hörte man, wie draußen ein Wagen vorfuhr.
Die Tür flog auf, und ein Mann trat ein. Es war der Fahrgast der Berline. Er trug eine Uniform, einen Säbel und in seiner Hand hielt er eine Peitsche.
"Pferde!", kommandierte er.
"Im Augenblick habe ich keine Pferde", erklärte der Postmeister mit einer Verbeugung.
"Ich brauche welche. Was sind das für Pferde, draußen vor dem Tarantas?"
"Die hat dieser Herr bestellt und bereits bezahlt", sagte der Postmeister und deutete auf Michael Strogoff.
"Dann spann sie ab! Ich kann hier keinen Augenblick verlieren."
"Ich auch nicht!", erwiderte Michael Strogoff, der an sich halten musste, diesem unverschämten Kerl nicht handfest zu antworten. Nadja trat zu ihm. Auch sie blieb ganz ruhig. Keiner wollte einen Streit provozieren, der die Reise möglicherweise verzögern könnte.
"Was soll der Unsinn! Der Tarantas wird abgeschirmt und die Pferde kommen vor die Berline."
Der Postmeister war in großer Verlegenheit. Wem sollte er gehorchen? Er sah zu Michael Strogoff und hoffte, er werde die Sache selbst erledigen.
Doch der zögerte. Was tun? Er könnte seinen Podaroshna vorzeigen und wäre damit im Recht. Aber damit lenkte er zu viel Aufmerksamkeit auf sich. Überließ er die Pferde dem Offizier, verzögerte sich die Reise um Stunden.
"Die Pferde bleiben an meinem Wagen", sagte er mit der Bestimmtheit, die einem sibirischen Kaufmann zustand.
"Ach, du willst deine Pferde nicht hergeben? Dann bekommt sie eben der, der hinterher noch reisefähig ist. Los - wehr dich!"
Mit diesen Worten riss der Uniformierte seinen Säbel aus der Scheide und ging in Stellung. Nadja warf sich zwischen die beiden Männer. Die Reporter stellten sich an Michael Strogoffs Seite.
"Ich will mich nicht schlagen!", sagte er und kreuzte die Arme vor der Brust, um nicht die Beherrschung zu verlieren.
"Jetzt immer noch nicht?", schrie der andere und zog ohne Vorwarnung seine Peitsche über die Schulter des Kuriers.
Nach dieser unglaublichen Herausforderung war das Gesicht von Michael Strogoff kalkweiß. Ein Übermaß an Selbstbeherrschung wurde ihm abverlangt. Ein Duell konnte er sich in seiner Situation nicht erlauben. Das könnte die ganz Mission zum Scheitern bringen. Lieber ein paar Stunden opfern. Wie sollte er jedoch diese Beleidigung hinnehmen?
"Nein!", sagte er, ohne sich zu bewegen. Er sah dem andern dabei nur fest in die Augen.
"Also dann, die Pferde umspannen - sofort!", kommandierte der Offizier und marschierte aus dem Zimmer.
Der Postmeister folgte rasch und mit einem enttäuschten Blick zu Michael Strogoff. Auch die beiden Reporter konnten sich auf das Verhalten keinen Reim machen. Ein Hüne, der mit einer Handbewegung einen Bären erlegen konnte, drückte sich vor einem Duell Mann gegen Mann?
Kurz darauf rollte die Berline los.
Nadja und Michael Strogoff blieben allein im Vorraum zurück. Nadja schien ruhig und Michael zitterte vor Erregung. Für Nadja gab es keinen Zweifel: nur sehr gewichtige Gründe konnten diesen Mann dazu bringen, sich so etwas bieten zu lassen.
Irgendein schwerwiegendes Geheimnis bestimmte das Handeln ihres Reisepartners. Dafür musste er sogar seinen Stolz opfern. Nadja beschloss, ihn in Ruhe zu lassen und fragte den Postmeister nach einem Zimmer. Ein wenig Schlaf würde nicht schaden.
Michael Strogoff legte sich nicht zu Bett. Er konnte unmöglich schlafen. Seine Schulter brannte von dem Peitschenhieb wie Feuer. Wer war dieser Mensch, der es gewagt hatte, ihn zu schlagen?
Am nächsten Tag, den 24. Juli, stand der Tarantas morgens um acht Uhr mit drei kräftigen Pferden vor der Station. An jeder Poststation erfuhr Michael Strogoff, dass die Berline ihm vorausfuhr - auf dem Weg nach Irkutsk.
Die Reise durch Sibirien war im Sommer viel beschwerlicher, als im Winter. Man musste zahlreiche Flüsse überqueren, die im Winter einfach zugefroren waren. Doch nun trugen sie Hochwasser. Die Überquerung über den Fluss Ischim dauerte volle zwei Stunden.
Zwei Stunden, in denen der Kurier von den Fährleuten beunruhigende Neuigkeiten erfuhr: Einzelne Spähtrupps des Feofar-Kahns wurden schon an beiden Ufern des unteren Ischim gesichtet. Die Stadt Omsk war in höchster Gefahr. Man erzählte von haarsträubenden Verbrechen und Gewalttätigkeiten der tatarischen Eroberer.
Seit der Stadt Ischim hatte Michael Strogoff kein Wort mehr gesprochen. Nadja hielt die Zeit gekommen, ihn auf seine Mutter anzusprechen:
"Wann hast du zuletzt von deiner Mutter gehört?"
"Ihr letzter Brief ist zwei Monate alt."
"Wenn sie noch in Omsk ist, darf ich sie doch besuchen, nicht wahr? Schließlich bin ich jetzt so etwas, wie ihre Tochter."
Michael antwortete ausweichend: "Ich hoffe, dass sie nach Tobolsk geflüchtet ist. Die alte Marfa hasst die Tataren und kennt die Steppe gut. Meine Hoffnung ist, dass sie am Fluss Irtysch hinunter nach Tobolsk gewandert ist."
"Wann glaubst du, seht ihr euch wieder?"
"Auf jeden Fall auf meiner Rückreise."
"Aber wenn sie noch in Omsk ist, wirst du sie doch besuchen?"
"Nein, Nadja. Und bitte frage mich nicht nach meinen Gründen. Es sind dieselben, warum ich diesen Schuft mit der Peitsche nicht erschlagen habe!"
Nadja überlief eine Gänsehaut.
"Du darfst dich nicht so aufregen. Ich spüre, du hast einen sehr wichtigen Auftrag. Ich respektiere das."
Damit beendete Nadja das Gespräch und beschloss, das Thema auch nicht wieder anzuschneiden.
Am 25. Juli hatten die Reisenden auf der Poststation von Tjukalinsk große Schwierigkeiten mit ihrem Kutscher. Er weigerte sich weiterzufahren, weil die Gefahr durch die Tatareneinheiten zu groß sei. Michael Strogoff gelang es, die Einwände des Kutschers mit klingender Münze zu widerlegen.
Die Fahrt konnte weiter gehen und bereits eine Stunde später hatten sie das Ufer des Irtysch erreicht. Dieser Strom ist eine der bedeutendsten Wasseradern Sibiriens. Auch er führte zurzeit Hochwasser und eine Überfahrt mit Gespann und Personen war überaus gefährlich.
Die Einschiffung war mühevoll. Nach dreißig Minuten harter Arbeit hatte der Fährmann den Tarantas und die Pferde glücklich an Bord, und er stieß ab.
Die ersten Minuten gelangen leidlich. Aber je weiter sie zur Mitte des Flusses kamen, desto tiefer wurde das Bett. Die Stangen, mit denen die beiden Fährleute die Fähre anschoben, versanken immer tiefer unter der Wasseroberfläche.
"Vorsicht!", rief der eine Fährmann dem anderen zu. Aber da wurde das Boot schon von der Strömung erfasst und flussabwärts gerissen. Die Männer ließen nichts unversucht, ihr Boot wieder schräg gegen den Strom zu bringen.
Plötzlich erkannte Michael Strogoff einige schmale Boote, die auf die Fähre zuschossen. Sein Blick verfinsterte sich und noch ehe er etwas sagen konnte, schrie einer der Fährleute:
"Die Tataren! Die Tataren!"
Tatsächlich! Mit Kriegern besetzte Boote rasten den Irtysch hinab. In wenigen Minuten mussten sie die Fähre überholen. Die Fährleute wollten verzweifelt ihre Stangen wegwerfen. Doch da rief Michael Strogoff:
"Fünfzig Rubel für jeden von euch, wenn wir vor diesem Gesindel am Ufer sind!"
Diese hohe Summe ließ die Männer ihre ganzen Kräfte sammeln und sie versuchten mit aller Anstrengung, die Fähre voranzubringen. Leider zeigte sich bald, dass es unmöglich war, vor den Tatarenbooten zu landen. Von diesen Räubern musste man das Schlimmste erwarten!
"Keine Angst, Nadja. Aber wir müssen nun mit allem rechnen. Vertraue auf mich."
"Ich vertraue immer auf dich", sagte das Mädchen mit fester Stimme.
Die Soldaten im ersten Boot waren schon bedrohlich nah und Michael Strogoff konnte ihren tatarischen Kriegsruf hören. Im nächsten Augenblick knatterte eine Gewehrsalve los und zwei der drei Pferde stürzten tödlich getroffen um.
Mit einem kräftigen Stoß legten die Boote an der Fähre an. Michael wollte mit Nadja über Bord springen und rief sie zu sich. Aber so weit kam es nicht. Eine Lanze traf ihn und er fiel rückwärts in den Irtysch. Die Wassermassen rissen ihn mit.
Nadja schrie und wurde von einem der Krieger gepackt und in ein Boot geworfen. Die beiden Fährmänner starben durch einen Lanzenhieb.