Einem Mann mit der Beobachtungsgabe, wie sie den Grafen von Monte Christo auszeichnete, blieb es nicht verborgen, dass der junge Kapitän Maximilian Morel, die schöne Valentine liebte. Die einzige Tochter des Staatsanwaltes, Herrn von Villefort, liebte den jungen Mann ebenso glühend.
Monte Christo brachte in Erfahrung, dass Herr von Villefort schon seit langem eine Vermählung mit Franz d'Epinay arrangiert hatte. Dieser weilte noch immer in Italien. Nach der Befreiung seines Freundes Albert von Morcerf in Rom, bereiste er das ganze Land.
Herr von Villefort hegte schon seit vielen Jahren eine heftige Abneigung gegen die Familie Morel. Nicht zuletzt, weil der Reeder Morel immer fest an die Unschuld seines damaligen Matrosen Edmond Dantes geglaubt hatte. Eine Hochzeit mit Maximilian kam für den Staatsanwalt niemals in Frage.
Dem Grafen von Monte Christo bot sich die Gelegenheit, die Mutter von Valentine näher kennen zu lernen. Die Begegnung fand im Salon der Villeforts statt. Eduard wurde auch dazu gerufen, damit er sich bei seinem Retter nochmals bedanken konnte.
"Ihre Tochter muss eine Dame von großer Schönheit sein, Madame", eröffnete der Graf das Gespräch.
"Ja, aber Valentine ist mein Stiefkind, sie ist die Tochter aus Herrn von Villeforts erster Ehe. Nur der kleine Eduard ist unser gemeinsamer Sohn." Sie musterte ihr Gegenüber mit großer Aufmerksamkeit, und der Graf hielt ihrem Blick ruhig stand.
"Habe ich nicht bereits früher die Ehre gehabt, Sie und ihre Stieftochter irgendwo zu sehen, Madame? Eine verworrene Erinnerung geistert durch meinen Kopf."
"Es ist nicht sehr wahrscheinlich, wir gehen nur wenig aus. Valentine meidet die Pariser Gesellschaft."
"Nein, hier in Paris kann es nicht gewesen sein, dafür ist mir die Gesellschaft zu unbekannt, aber… es könnte in Italien gewesen sein!" Der Graf von Monte Christo hatte seine Hand an die Stirn gelegt, als wollte er seine Erinnerungen zusammendrängen. "In Perugia, im Gasthaus "Zur Post", wir saßen auf einer Bank unter der Weinlaube und plauderten lange miteinander, erinnern Sie sich?", versetzte der Graf.
"Ja, wahrhaftig", sprach Frau von Villefort, "ich entsinne mich, mit einem Mann in einem langen Mantel gesprochen zu haben, ich glaubte er wäre ein Arzt."
"Dieser Mann war ich; ich wohnte in dem Gasthof und hatte meinen Kammerdiener von einem Fieber geheilt, deshalb hielt man mich für einen Arzt."
"Ich fragte Sie um Rat, über die Gesundheit von Fräulein Villefort - aber sind Sie nicht Arzt, wenn Sie Kranke heilen?"
"Das Geheimnis ist, dass ich die Chemie und die Naturwissenschaften studiert habe, aber nur aus Liebhaberei."
In diesem Augenblick schlug es sechs Uhr und Valentine trat ein. "Ich werde nachsehen, ob Großvater Noirtier zum Mittagessen bereit ist", sagte sie und verschwand wieder.
"Madame, warum hat sich Fräulein von Villefort so schnell wieder entfernt, doch nicht meinetwegen?", fragte der Graf.
"Durchaus nicht", erwiderte die junge Frau lebhaft, "es ist die Stunde, wo wir Herrn von Noirtier sein trauriges Mahl einnehmen lassen, das sein unglückliches Dasein verlängert. Sie wissen, mein Herr, dass der Vater meines Gatten gelähmt ist? Er kann sich nicht mehr bewegen. Sein Geist wacht in einer leblosen Hülle. Aber ich unterbrach Sie, als Sie mir sagten, was für ein geschickter Chemiker sie seien."
Ihr Interesse war geweckt. Der Graf tat nichts, um es zu dämpfen. Geschickt lenkte er das Gespräch in die Richtung, in der er es haben wollte.
"Dieses Mittel, mit dem ich ihren Sohn aus der Ohnmacht geholt habe bringt das Leben, wenn man nur einen Tropfen verwendet. Aber nur fünf Tropfen bringen bereits den Tod."
"Es ist also ein furchtbares Gift?"
"Nun, in der Medizin hängt alles von der Anwendung ab. In geringer Dosis ist manches Gift eine heilsame Arznei!"
"Aber Sie sagen, man könne sich daran gewöhnen?", fragte Frau von Villefort, deren Augen in seltsamen Feuer glänzten.
"Ohne Zweifel. Nehmen Sie am ersten Tag ein Milligramm, am zweiten Tag zwei Milligramme, so haben Sie nach zehn Tagen ein Zentigramm. Diese Dosis werden Sie ohne Bedenken ertragen, während sie für jede andere Person äußerst gefährlich wäre."
"Und Sie kenne kein Gegengift?"
"Es gibt keines!"
"Trotz allem, muss es ein ausgezeichnetes Mittel gegen meine häufigen Ohnmachtsanfälle sein." Auf ihr Drängen händigte ihr der Graf von Monte Christo zum Abschied ein Fläschchen mit dem Mittel aus. Frau von Villefort blieb in tiefen Gedanken zurück.