Es folgten Monate des Lernens. Edmond besaß ein außerordentliches Gedächtnis und eine wunderbare Auffassungsgabe, und er war von brennender Leidenschaft erfüllt. Nach nicht einmal einem Jahr war er ein anderer Mensch. In diesen Monaten verfolgten die beiden Männer unablässig den Plan ihrer Befreiung. Mit der größten Vorsicht und ihren bescheidenen Werkzeugen gruben sie sich durch das Mauerwerk.
Was Edmond immer größere Sorge bereitete, war der Gesundheitszustand seines Freundes und Lehrers. Der Abbé Faria litt an quälenden Anfällen, die immer häufiger wurden, ihn für Stunden wie tot niederstreckten und seinen Körper mehr und mehr lähmten.
Ihr Verhältnis glich inzwischen dem von Vater und Sohn. Eines Tages sagte der Abbé zu Edmond: "Ich fühle, dass die Stunde meines Todes naht." Sein Atem ging röchelnd und er musste beim Sprechen lange Pausen machen, um wieder zu Kräften zu kommen.
"Ich will dir ein Geheimnis verraten, Edmond. Bevor man mich auf dieses fürchterliche Kastell brachte, stand ich im Dienst eines italienischen Grafen. Dieser sollte einen unermesslichen Schatz besitzen, der sich nach heutigem Wert auf mindestens zwei Millionen römische Taler belaufen würde…"
"Aber das wären ja mehr als dreizehn Millionen unseres Geldes. Dann ist Ihr Graf ja der reichste Mann der Welt gewesen", rief Edmond voll Staunen.
"Das wäre er, ja! Doch das Schicksal wollte, dass niemand wusste, wo sich der Schatz befand. Er existierte nur als eine Überlieferung, eine Sage, die sich durch die Jahrhunderte erhalten hatte - und man wusste, dass es ein Testament geben musste. Höre, mein lieber Sohn, der Graf starb verarmt und ohne Erben. Mir vermachte er alles, was ihm noch verblieben war.
Doch das einzige von Wert, waren seine Bücher. Ich will mich kurz fassen. Ein unglaublicher Zufall wollte es, dass ich in einem alten Buch ein Stück Pergament entdeckte, das ich für wertlos hielt und - während ich den Nachlass ordnete - den Flammen übergeben wollte. Aber gerade dadurch enthüllte es mir - schon halb verbrannt - sein Geheimnis.
Ich erinnere mich, wie ich vor Erregung zitterte, als ich erkannte, dass es das so lang und so vergeblich gesuchte Testament war, auf dem sich die Schrift durch die Hitze wiederhergestellt hatte! Viele Stunden verbrachte ich damit, es zu entziffern und die fehlenden, verbrannten Teile zu ergänzen. Und ich wurde belohnt. Ich erfuhr, dass sich das ganze Vermögen, bestehend aus Goldbarren, Münzen, Edelsteinen, Diamanten und Juwelen auf Monte Christo befinden sollte…"
"Ich kenne diese Insel", murmelte Edmond Dantes. "Ich kam oft an ihr vorüber, sie liegt fünfundzwanzig Meilen von Pianosa entfernt, zwischen Korsika und Elba."
"Höre gut zu, mein Sohn, und merke dir all meine Worte: Man findet den Schatz auf Monte Christo in den Öffnungen einer Grotte, in der östlichsten Bucht. Die Stelle ist nur schwer zugänglich. Du musst den zwanzigsten Stein der vor die Grotte gemauerten Wand lösen, dann findest du den Eingang. Geh in die hinterste Ecke der Höhle, dort liegt ein Felsen in Form eines Löwen… Und hinter diesem… Ach, ich fühle wieder einen Anfall kommen. Es wird der letzte sein, ich werde sterben!"
"Ihr werdet leben, mein Vater!"
Aber dieser Anfall war zu entsetzlich. Der Abbé starb in Edmond Dantes' Armen. Edmond war so verzweifelt, dass er beinahe die wichtigsten Vorsichtsmaßnahmen vergaß. In der allerletzten Minute erst verließ er die Zelle seines väterlichen Freundes und verschloss den Durchschlupf notdürftig, damit er im schwachen Licht nicht bemerkt wurde.
Als der Wärter kam und den Leichnam des Abbé fand, wurde der Arzt gerufen; dieser stellte den Tod fest - und was nun folgte, erschien Edmond Dantes wie ein unheimlicher Traum. Durch die dünne Wand hörte er die Unterhaltung der Totengräber. Sie ließen einen Sack zurück, in den sie den Toten steckten. In der Nacht wollten sie ihn forttragen und dem aufbrausenden Meer übergeben.
Edmonds Entschluss stand sofort fest. Nie wieder würde sich ihm so eine Gelegenheit bieten! Er schleppte seinen toten Freund in seinen eigenen Kerker und kroch in dessen Kammer zurück. Dort verschloss er die Wand gewissenhaft und schlüpfte in den Sack. Als die Totengräber kamen, machte er sich vollkommen steif.
Sein Plan glückte, denn die einfältigen Kerle hatten reichlich Wein getrunken. Die Nacht war finster und stürmisch. Keiner bemerkte den Tausch. Sie schleppten Edmond Dantes über den Hof des Kastells hinüber zu den Klippen. Dort warfen sie ihn nach mehrfachem Schwingen ins Meer. Der Angstschrei, der Edmond während seines Sturzes entwich, vergaß er sein restliches Leben nicht mehr. Das Meer war der Friedhof vom Kastell Iff.