Die Alte hatte Cedric in ein Zimmer gezerrt. Sie nahm einen Weinkrug und zwei Becher und schenkte ein.
"Was wollt ihr?", fragte Cedric.
"Ihr seid Sachse!", gab die Alte zur Antwort. "Ach, den Klang meiner Muttersprache höre ich leider viel zu selten. Ich spüre, dass meine Zeit hier zu Ende geht. Aber ich möchte die Welt nicht so sündig verlassen, wie ich auf ihr gelebt habe. Der Wein soll mir Kraft geben, Euch meine schauerliche Geschichte zu erzählen."
Gierig trank sie den Becher aus und drängte Cedric, es ihr gleich zu tun. Der wollte eigentlich einen klaren Kopf bewahren, aber die Alte schien ihn als ihren Beichtvater auserkoren zu haben und so leerte er seinen Becher.
Zufrieden fuhr sie fort: "Ich bin nicht als das elende Geschöpf geboren, das du jetzt siehst. Ich war frei, glücklich, geehrt. Ich liebte und wurde geliebt. Jetzt bin ich eine Sklavin, unglücklich und verachtet. Als ich noch schön war, war ich das Spielzeug der Leidenschaft meines Herrn. Heute bin ich nur hasserfüllt und kann niemals vergessen, dass ich die Tochter des Adligen von Torquilstone war."
"Du die Tochter von Torquil Wolfganger? Des edlen Sachsen und Freundes meines Vaters?", entfuhr es Cedric.
"Der Freund deines Vaters?", entgegnete die Alte. "Dann bis du Cedric der Sachse? Was soll dann diese Kutte?"
"Das ist jetzt nicht wichtig. Fahre mit deiner Geschichte fort. Wie kann es sein, dass du noch lebst. Als euer Schloss damals überfallen wurde hieß es, dass alle tot wären. Die Freunde deines Vaters haben um deine ganze Familie getrauert - auch um dich Ulrica. Währenddessen verbrachtest du dein Leben neben diesem Tyrannen in gesetzloser, schändlicher Liebe?"
"Gesetzlos und schändlich, ja; aber es war ein Leben ohne Liebe. Meine Seele war voller Hass gegen die Front de Boeufs."
"Du hast sie gehasst und trotzdem weitergelebt. Konntest du keinen Dolch finden, mit dem du deinem Leben ein Ende setzt? Wie konntest du mit dem Mörder deines Vaters zusammenleben!"
"Ich hatte meine Stunden der Rache. Mir gelang es den alten Front de Boeuf und seinen Sohn Reginald in einen Streit zu verwickeln. Der Hass wurde so groß, dass der Tyrann an seinem eigenen Tisch durch die Hand seines Sohnes zu Tode kam. Solche Geheimnisse birgt dieses Schloss."
"Und was geschah mit dir nach dem Tod des alten Front de Boeuf?", fragte Cedric.
"Man verbannte mich in ein einsames Turmzimmer, wo niemand mein Klagen hören konnte."
"Das ist die gerechte Strafe für dich", sagte Cedric "büße und bete. Aber ich kann nicht länger hier bleiben."
"Höre, vor den Toren liegt eine Streitmacht, die das Schloss belagert. Gehe zu ihnen und führe sie an. Wenn du eine rote Fahne am Westturm wehen siehst, dann bedrängt die Normannen hart. Sie werden im Inneren des Schlosses genug zu tun haben. Beeil dich und folge deinem Schicksal."
Cedric hätte sie gern nach ihren Plänen gefragt, aber da hörte er Front de Boeufs Stimme donnern: "Wo steckt diese elende Priester."
Ulrica verschwand durch eine geheime Tür und schon stand der Hausherr vor dem verkleideten Sachsen.
"Haben alle ihre Beichte abgelegt?", fragte Front de Boeuf.
"Sie sind alle auf das Schlimmste gefasst", antwortete Cedric in seinem besten französisch.
"Mir scheint, Bruder, deine Sprache verrät die sächsische Zunge."
"Ich wurde im Kloster des heiligen Withold erzogen."
"Es wäre mir lieber, du wärst ein Normanne. Da ich keinen anderen Boten habe, muss ich auf dich vertrauen. Geh zum Schloss von Philip de Malvoisin und gebt ihm diesen Brief. Aber zuvor wendest du deine ganze Überredungskunst an, um dieses Gesindel noch eine Weile zurückzuhalten. Erzähle Ihnen irgendetwas."
"Ich werde Euren Befehl ausführen. Pax vobiscum."
Damit ließ sich Cedric vom Schlossherrn zu einem geheimen Ausgang bringen und er eilte über den Graben aufs freie Feld. Als er außer Rufweite war, schrie er: "Verflucht seiest du, falscher Baron!"
Front de Boeuf ging in den Saal, in dem die beiden Gefangenen mit vier Wachen saßen. Wamba hatte die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, sodass ihn keiner erkennen konnte.
"Nun, ihr tapferen Engländer. Wie gefällt Euch Euer Aufenthalt in Torquilstone. Ich frage Euch, wie viel Lösegeld, ist Euch Euer Leben wert? Was meint Ihr, Cedric von Rotherwood?"
"Mein Leben ist keinen Deut wert", antwortete Wamba.
"Was soll das?", rief Font de Boeuf und riss Wamba die Kappe vom Kopf. Dabei entdeckte er den Ring des Leibeigenen an seinem Hals. "Wer bist du?"
"Ich bin Cedrics Narr und wenn ihr mich schon hängt, dann bitte mit den Füßen nach oben, damit mein Gehirn wieder in die richtige Lage rückt."
"Bezahlt dein Herr nicht einen stolzen Preis für dich, wird genau das dein Schicksal sein. Und jetzt", fuhr er die Wachleute an, "holt mir den richtigen Cedric!"
"Wenn ich mich nochmals einmischen dürfte, Hoheit. Ihr werdet auf diesem Schloss mehr Narren als Cedrics finden."
"Was meinst du damit, Bursche?" Der Schlossherr blickte seine Leute an und die stotterten, dass sie nicht wüssten, wo der echte Cedric sei.
Als Front de Boeuf erkannte, dass er selbst den Sachsen in der Mönchskutte hatte entkommen lassen, packte ihn der Zorn.
"Narr, dir habe ich das zu verdanken. Dafür werde ich dich heilig sprechen und dir eine Tonsur verpassen. - Zieht ihm den Skalp ab und werft ihn in den Schlossgraben. - Nun, Spaßmacher, fällt dir immer noch ein Scherz ein?"
"Ich bin Euch zu großem Dank verpflichtet. Denn gebt ihr mir eine blutrote Tonsur, so wird aus einem schlichten Mönch ein Kardinal."
De Bracy, der das Schauspiel mit angesehen hatte, konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. "Lasst Ihn leben, Front de Boeuf. Es wäre schade um ihn. Schenkt ihn mir zur Unterhaltung meiner Soldaten. - Was meinst du, willst du mit mir in den Krieg ziehen?", wandte er sich an Wamba.
"Wenn es mein Herr erlaubt", erwiderte Wamba, "denn ohne seine Erlaubnis kann ich den Halsreif nicht ablegen."
"Eine normannische Säge wird das sächsische Band schnell durchschneiden", antwortete de Bracy.
"Nun, das gefällt mir", grollte Front de Boeuf. "Ihr amüsiert Euch über diesen Narren, während uns das Verderben droht. Seht Ihr nicht, dass unser Bote niemals zu Malvoisin gehen wird, um Verstärkung anzufordern?"
"Dann kämpfen wir eben ohne Verstärkung", sagte de Bracy. "Habt Ihr mich je vor einem Kampf zittern sehen? Ich übernehme die Ostseite, Bois-Guilbert, Ihr schützt die Westseite und Reginald Ihr bezieht Stellung auf der Geschützzinne."
Als die Herren ihre Posten eingeteilt hatten, klopfte es und ein Diener meldete den Mönch Ambrosius, ein Bruder des Prior Aymer von Jorvaulx. Die Nachricht, die er überbrachte, machte die Lage nicht besser. Prior Aymer befand sich in Gefangenschaft von Geächteten und die forderten ein hohes Lösegeld.
"Zum Teufel!", rief Front de Boeuf. "Ein normannischer Baron soll einen Mann der Kirche auslösen, dessen Geldbeutel zehnmal schwerer ist als sein eigener! Dafür haben wir jetzt keine Zeit. Die Belagerer rücken immer näher und wir müssen Posten beziehen. Geht und betet in der Kapelle, die hat schon lange keinen Besuch mehr empfangen."
Jeder der Ritter begab sich nun eilig an seinen Platz, um notdürftig die Mauern zu besetzen. De Bracy erkannte unter den Belagerern den schwarzen Ritter: "Ist das nicht der Ritter, Front de Boeuf, der Euch beim Turnier aus dem Sattel warf?"
"Umso besser, dass er hierher kommt, um mir Revanche zu bieten."