Niemals zuvor kam mir der Gedanke, dass der alte Captain und ich einmal getrennt werden könnten. Inzwischen waren wir gute Freunde und wir konnten uns gut unterhalten. Ich war nicht dabei, als ihn das Schicksal ereilte, aber man hatte mir alles erzählt.
Jerry war mit Captain zum großen Bahnhof gefahren und befand sich gerade auf dem Rückweg. Nach der London Bridge kam ihm ein Brauereiwagen entgegen, der von zwei starken Pferden gezogen wurde. Der Fuhrmann trieb die Pferde mit seiner Peitsche noch an. So raste der leere Wagen mit unkontrollierter Geschwindigkeit über die eh schon überfüllten Straßen.
Der Kutscher war machtlos, als er mit seinem Wagen ein Mädchen überrollte und im nächsten Augenblick mit Jerrys Kutsche zusammenstieß. Wie durch ein Wunder wurde Jerry aus der Droschke geschleudert und erlitt nur leichte Kratzer. Doch die Räder der Kutsche waren gebrochen, die Droschke war umgefallen und mit ihr - Captain - dem dabei eine der Deichseln in die Flanke gebohrt wurde.
Als man das Chaos endlich entzerrt hatte und der arme Captain wieder auf seinen Beinen stand, erkannte man, wie schwer er verletzt war. Langsam gingen sie nach Hause, während sich Captains weißes Fell immer mehr mit Blut vollsaugte. Später erzählte man, dass der Kutscher betrunken war und der Brauereibesitzer eine Strafe an Jerry zahlen musste. Doch diese Geste half Captain dann auch nicht mehr.
Einige Tage mussten wir im Stall stehen, bis die Droschke repariert war. Jerry und der Tierarzt bemühten sich redlich um den armen Captain. Sie versuchten, die Schmerzen erträglich zu machen. Doch so, wie es aussah, würde Captain nie wieder ganz gesund werden und war höchstens noch in der Lage einen Karren zu ziehen. Dies würde bedeuten, dass Trunkenbolde über Captain bestimmten, die ihre unvernünftigen Taten dann durch Entschädigungen gut machen wollten. Doch so einfach war das nicht, ein gutes Pferd ist für den Menschen wie ein Freund. Und den kann man auch nicht so einfach mit Geld ersetzen …
Als wir wieder am Droschkenstand eintrafen, fragte Governor nach Captain. Jerry erzählte ihm das Dilemma und sagte: "Zur Hölle mit dem blöden Alkohol. Der ist eine Erfindung des Teufels. Weshalb trinkst du eigentlich noch so viel, Governor. Merkst du nicht, dass du dann eigentlich der Sklave einer schlechten Angewohnheit bist?"
Jerry hatte sich richtig in Rage geredet. Governor antwortete, dass wohl nicht jeder so eine anständige Einstellung zum Leben habe. Er habe es mal mehrere Tage ohne Alkohol versucht und hatte es dann schließlich doch nicht ohne ausgehalten.
Jerry erzählte ihm daraufhin von seiner eigenen Bekanntschaft mit dem Alkohol und dass er sehr wohl wisse, wie schwer es ist, davon loszukommen. Doch mit einem festen Willen, Gottes Hilfe und dank seiner lieben Frau, die ihn bei seinem Vorhaben unterstützte, konnte er sich vom Alkoholgenuss lossagen. "Inzwischen habe ich keine Lust mehr darauf", schloss er seinen Vortrag.
Governor, der interessiert gelauscht hatte, überlegte laut: "Vielleicht sollte ich es noch einmal versuchen. Es ist schon schlimm, nicht mehr Herr seiner Sinne zu sein."
Jerry bestärkte ihn, indem er ihm klar machte, welch großes Vorbild er dann für die Kollegen am Droschkenstand wäre. Es war ja nicht nur ein Problem Governors.
Erst glaubten wir, dass Captain wieder ganz gesund würde. Doch es war nur Jerrys gute Pflege und Captains kräftige Natur, die das verletzte Pferd so lange einsatzbereit gehalten hatte. Jerry lehnte einen Vorschlag des Tierarztes ab, den alten Captain noch für wenige Pfund zu verscherbeln. Er würde es nie übers Herz bringen, einen treuen Diener derart abzuschieben. Er sprach davon, den alten Captain mit einer Kugel von seinem Leiden zu erlösen.
Als ich am nächsten Tag von der Schmiede heimkehrte, war Captain nicht mehr da. Er fehlte mir ebenso wie der gesamten Familie. Nun war es an Jerry, nach einem neuen Pferd zu sehen.
Jerry hatte von einem jungen, temperamentvollen Pferd erfahren, das neulich durchgegangen war. An dem Pferd sei angeblich nichts falsch - es hatte zuvor zu wenig Auslauf und war zu diesem Anlass zu eng aufgezäumt worden. Vermutlich war es nur deshalb ausgeflippt.
Jerry wollte sich Hotspur - so hieß Captains Nachfolger - ansehen. Er brachte ihn mit in unseren Stall. Er war ungefähr gleich groß wie Captain, hatte keine Zeichnung sondern ein durchgehend schönes braunes Fell. Ich begrüßte meinen fünf Jahre alten neuen Mitbewohner freundlich. Aber wir sprachen nichts.
Die erste Nacht verbrachte er eher unruhig. Er stampfte und zog am Halfter. Somit konnte ich auch nicht schlafen. Als Hotspur am nächsten Tag nach fünf Stunden Arbeit mit der Droschke zurückkam, war er vernünftig und ruhig. Jerry war - wie zu erwarten - gut zu ihm und streichelte ihn. Bald waren sie die besten Freunde. Jerry war glücklich, ein so gutes, kräftiges Pferd bekommen zu haben.
Hotspot dagegen schämte sich, als Droschkenpferd zu arbeiten. Doch schon nach einer Woche gab er mir zu verstehen, dass er sein freies Maul und die leichte Hand am Zügel sehr genoss. So befand er die neue Arbeit weniger entwürdigend als die quälende Arbeit seiner früheren Stellung.