Der Maulwurf saß im Grase und blickte über den Fluss. Da fiel sein Blick auf ein dunkles Loch am anderen Ufer, gerade oberhalb der Wasserfläche. Er verweilte in Träumen über ein behagliches Leben mit genügsamen Ansprüchen, einem Dasein in einem Haus am Fluss, gerade weit genug von der Hochwassergrenze entfernt und fern ab von Abfall und Getöse.
Während er auf das dunkle Loch starrte, blitzte etwas Helles auf, verschwand wieder, um noch einmal aufzufunkeln, wie ein kleiner Stern. Allerdings war es undenkbar, an einem solchen Ort einen Stern anzutreffen, jedoch war das glitzernde Etwas zu klein für ein Glühwürmchen. Er blickte noch einmal zu dem Loch, das ihm erstaunlicherweise zuzwinkerte und er glaubte, ein Auge erkennen zu können. Mehr noch, um das Auge herum formte sich nach und nach ein Gesicht, wie ein Rahmen um ein Bild.
Ihm stand ein braunes, kleines Gesicht mit einem Schnurrbart gegenüber, das ihm mit ernsthaftem Blick entgegenzwinkerte. Es hatte putzige hübsche Ohren und einen dichten Pelz. Eine Wasserratte!
Die beiden Tiere standen sich gegenüber und beäugten sich neugierig.
"Hallo Maulwurf!", sagte die Wasserratte.
"Hallo Ratte", entgegnete der Maulwurf.
"Möchtest du zu mir herüberkommen?", fragte die Ratte.
"Och, reden wir erst einmal miteinander", erwiderte der Maulwurf ein wenig unsicher. Ihm war das alles nicht ganz geheuer, weil er den Fluss nicht kannte und nicht wusste, wie man sich dort benimmt.
Die Ratte antwortete nicht, beugte sich lediglich nach vorne und entknotete ein Seil, um es einzuholen. Leichtfüßig bestieg es daraufhin ein kleines Boot, das der Maulwurf bisher noch nicht entdeckt hatte. Es war außen blau und innen weiß und hatte gerade genug Platz für zwei Tiere. Der Maulwurf war sofort vernarrt in das Boot, obwohl er gar nicht genau wusste, wozu so ein Ding diente.
Geschickt ruderte die Ratte herüber und band das Boot fest. Der Maulwurf trippelte nervös die Uferböschung hinunter. Die Ratte hielt ihm ihre ausgestreckte Vorderpfote entgegen und sagte: "Stütz dich drauf!" Begeistert saß der Maulwurf kurz darauf auf der Hinterbank eines echten Bootes.
"Dies war ein himmlischer Tag!", erzählte er. Die Ratte stieß das Boot ab und begann zu rudern. "Ich hab noch nie in einem Boot gesessen."
"Was?!", rief die Ratte und starrte den Maulwurf mit geöffnetem Mund an. "Du hast noch nie …, du bist noch nie in einem … - aber was hast du dann immer gemacht?"
"Ist alles so schön wie das hier?", fragte der Maulwurf schüchtern, obgleich er es nur zu gern glauben wollte, während er sich auf der Hinterbank zurücklehnte und die Kissen beäugte, die Ruder und das interessante Zubehör und wie er dabei spürte, dass das Boot sich unter ihm schaukelnd bewegte.
"Schön? Es gibt nichts Besseres", antwortete die Wasserratte bedeutungsvoll und ruderte weiter. "Du kannst mir glauben, mein lieber Freund, nichts auf der Welt ist auch nur halb so abenteuerlich, wie mit Booten herumzugondeln", fuhr die Ratte schwärmerisch fort.
"Achtung, Ratte!", schrie der Maulwurf auf. Doch es war bereits zu spät und das Boot prallte voll ans Ufer. Der Träumer, der fidele Paddler, lag rücklings auf dem Bootsboden und streckte alle vier Beine gen Himmel.
"Im Boot oder mit dem Boot", plapperte die Ratte weiter, während sie sich aufrappelte und lachte. "Ob drinnen oder draußen, das ist egal - oder vielleicht besser: reizvoll. Ob du dich treiben lässt und dein Ziel erreichst, auch wenn du es nicht erreichst und ganz woanders ankommst, oder wenn du nirgends ankommst - du bist immer beschäftigt ohne je etwas Besonderes zu tun. Und wenn du Lust hast, gehst du weiter, manchmal lässt du es bleiben - gerade wie es dir beliebt. Und wenn du heute nichts Besseres zu tun hast, dann lassen wir uns den Fluss runtertreiben, paddeln ein wenig und genießen diesen schönen Tag. Magst du?"
Glücklich wackelte der Maulwurf mit den Zehen. Er atmete tief ein, lehnte sich genüsslich in die kuschligen Kissen und sagte zufrieden: "Oh doch. Es ist ein herrlicher Tag. Wir wollen gleich losfahren!"
"Einen Moment noch", sagte die Ratte und kletterte in ihr Loch. Kurze Zeit später tauchte sie, schwankend unter einem lecker gefüllten Picknickkorb, wieder auf. "Schieb den unter die Bank", befahl sie dem Maulwurf, entknotete die Leine und ergriff die Ruder.
Der Maulwurf zappelte rum und fragte neugierig, was denn in dem Korb drin sei. Die Ratte antwortete kurz angebunden: "Kaltes Huhn, Kaltesalamikalterbratengürkchensandwichbrötcheneingelegtesfleischkirschsaftzitronenlimonadesprudelwasser …"
"Stopp. Das ist doch viel zu viel!", rief der Maulwurf inbrünstig.
"Denkst du?", wunderte sich die Ratte. "Es ist nicht mehr, als ich sonst auf solch kleine Vergnügungsreisen mitnehme. Und die anderen Tiere werfen mir jedesmal vor, ich sei ein Geizkragen …"
Der Maulwurf hörte nicht mehr zu. Die Eindrücke dieses neuen Lebensgefühls ließen ihn in eine andere Welt abtauchen. Betört und aufgewühlt nahm er das Glitzern und Rauschen des Wassers in sich auf, die Gerüche, die Klänge und das Sonnenlicht. In liebliche Tagträume versunken, ließ er eine Pfote ins Wasser baumeln.
Und weil die Wasserratte ein feinfühliges Tier war, paddelte sie weiter und störte ihren Fahrgast nicht. "Dein Anzug gefällt mir, guter Freund", sagte sie nach ungefähr einer halben Stunde, "so einen schwarzen Frack werde ich mir auch nähen lassen, wenn mein Geld dazu ausreicht."
"Entschuldige", sagte der Maulwurf, "du musst mich für mehr als unhöflich halten, doch hier ist alles so neu für mich. Dies ist also ein Fluss!"
"Der Fluss", berichtigte die Ratte.
"Du lebst wirklich hier am Fluss? Welch amüsantes Dasein!"
"Ja! Ich lebe an ihm und mit ihm und auf ihm und in ihm", erwiderte die Ratte, "der Fluss ist mir Bruder und Schwester, Tante und Gesellschaft, Essen und Trinken und natürlich meine Waschgelegenheit. Ich wünsche mir nichts anderes. Was er mir nicht bieten kann, das will ich nicht haben. Und was er nicht weiß, das muss ich auch nicht wissen. Oh Gott! Was wir schon zusammen überstanden haben! Zu jeder Jahreszeit sorgt er für Wonne und Spaß.
Im Februar, wenn die Flut kommt und meine Keller zum Überlaufen bringt, mit einem Nass, das so braun ist, dass ich es nicht trinken kann. Und wenn diese braune Brühe an meinem edlen Schlafgemach vorbeiblubbert oder wenn es wieder sinkt und Lehmklumpen zurücklässt, die wie Pflaumenpudding riechen, und wenn die Gräser und Kräuter alle Gräben überwuchern, so dass ich beinahe trockenen Fußes über die Polster gehen kann, um mir Frischfutter zu holen - all die Dinge, die achtlose Leute aus ihren Booten fallen lassen!"
"Ist das nicht manchmal langweilig", warf der Maulwurf ein, "nur du, der Fluss und niemand sonst mit dem man Reden könnte!"
"Niemand - na ja, du hast ja wirklich keine Ahnung", meinte die Ratte geduldig. "Man lebt hier so gedrängt beieinander, dass manche von ihnen schon wieder ans wegziehen denken. Es ist nicht mehr so wie früher. Wirklich nicht. Fischotter, Reiher, Enten, Moorhühner und wie sie alle heißen, sind den ganzen Tag unterwegs und immer bestrebt, dass man selbst etwas unternimmt - als ob man nicht so schon genug zu tun hätte."
"Und was ist dort drüben?", fragte der Maulwurf und zeigte mit seiner Pfote dahin, wo ein bewaldeter Hintergrund die sumpfigen Wiesen auf der anderen Flussseite einrahmte."
"Das? Och, das ist der Wilde Wald", antwortete die Ratte knapp, "das ist keine gute Gegend für uns Uferbewohner."
"Weshalb - wohnen dort keine netten Leute?", fragte der Maulwurf unsicher.
"Tja", überlegte die Ratte laut, "die Eichhörnchen sind eigentlich ganz nett. Und die Karnickel eigentlich auch, zumindest manche, Kaninchen sind ziemlich verschieden. Und dann wohnt mittendrin auch noch der Dachs. Den lassen alle in Ruhe; was auch ratsam ist", fügte die Ratte noch bedeutungsvoll hinzu.
"Weshalb? Wer sollte mit ihm was anfangen?", fragte der Maulwurf verwundert.
"Nun ja, es leben ja noch andere Tiere im Wald. Wiesel, Hermeline und Füchse und so weiter. Die sind eigentlich schon in Ordnung … Mit den meisten bin ich ganz gut befreundet - dennoch werden sie manchmal ein wenig komisch und dann - na ja, wirklich trauen würde ich ihnen dann nicht. So ist das nun mal.", erklärte die Ratte.
"Und was liegt hinter dem Wilden Wald?", fragte der Maulwurf wissensdurstig.
"Da - ja, da liegt die weite Welt", erwiderte die Ratte, "und die geht uns nichts an. Dich nicht und mich nicht. Da war ich noch nie, da will ich auch nicht hin und wenn du einigermaßen bei Verstand bist, dann willst du da auch nicht hin. Sprich bitte nie mehr davon. So! Hier ist endlich unser kleiner Stausee. Jetzt gibt es gleich Mittagessen."
Sie trieben aus der Strömung heraus in ein stilles Wasser, das ein kleiner künstlicher See zu sein schien. Die grüne Uferböschung neigte sich ihm zu, glänzende Baumwurzeln fanden sich dicht unter der Wasseroberfläche, vor ihnen erfüllte das Rauschen eines Wasserfalls die Stille. Am Rande stand ein Mühlenhaus mit einem klappernden Mühlenrad, das die Luft mit eintönigem Tropfgeräusch erfüllte. Überwältigt streckte der Maulwurf seine Vorderpfoten in die Höhe und rief: "Oh mein Gott!"