Am großen Salz-See lag der bisher höchste Punkt der Bahnlinie. Von dort ging es in einem lang gestreckten Bogen hinunter in das Bitter Creek-Tal. In diesem Bergland gab es viele Flüsse, über die kleine Brücken führten.
Je mehr man sich dem Reiseziel näherte, desto ungeduldiger wurde Passepartout, und auch Fix wünschte sich sehnlichst das Ende der Reise durch den amerikanischen Kontinent herbei.
Die Route ging weiter durch den Staat Wyoming. Es hatte die ganze Nacht geschneit und gleichzeitig geregnet. Passepartout war immer in großer Sorge. Und er hatte nicht ganz Unrecht. Größere Schneemengen konnten die Räder blockieren und den Reiseplan gefährden.
Während sich der Franzose um das Gelingen der Wette sorgte, wurde Mrs. Aouda von anderen Befürchtungen geplagt. Beim letzten Aufenthalt im Bahnhof von Green River waren einige Reisende ausgestiegen. Unter diesen Personen hatte die junge Frau jenen Oberst Stamp W. Proctor erkannt, der sich während der Wahlveranstaltung in San Francisco so flegelhaft gegen Mr. Fogg aufgeführt hatte.
Dieses Auftauchen bedrückte die junge Frau sehr. Sie fühlte sich immer enger ihrem Retter verbunden. Kein Wunder, dass sich ihr Herz zusammenkrampfte, als sie den Rüpel wiedererkannte, mit dem sich Mr. Fogg früher oder später duellieren wollte.
Der Mann durfte Mr. Fogg um keinen Preis unter die Augen kommen. Als der Zug weiterfuhr, schlummerte Phileas Fogg ein wenig. Mrs. Aouda nutzte die Gelegenheit und erzählte Fix und Passepartout von ihrer Beobachtung.
"Wie? Proctor ist hier im Zug?", rief Fix. "Seien Sie ganz beruhigt Gnädigste, ich werde mir den Kerl schon vornehmen."
Passepartout stimmte Mr. Fix zu.
"Ach, Mister Fogg wird die Rache keinem anderem überlassen. Er hat versichert, dass er nach Amerika zurückreisen und den Grobian suchen werde. Wenn ihm der Oberst jetzt zu Gesicht kommt, gibt es einen bösen Zusammenstoß."
Als sie gerade weiter sprechen wollten, erwachte Phileas Fogg und blickte aus dem schneeverkrusteten Fenster. Ein wenig später wandte sich Passepartout leise an Mr. Fix: "Sie wollen sich allen Ernstes für ihn schlagen?"
"Ich werde alles daran setzten, ihn lebend nach London zurückzubringen", sagte Fix schlicht.
Nun musste eine Möglichkeit gefunden werden, um Phileas Fogg in seinem Eisenbahnabteil zurückzuhalten. Allzu schwer konnte das nicht sein, denn, wie wir wissen, machte er niemals überflüssige Bewegungen, und neugierig war er auch nicht. Mr. Fix glaubte einen Weg gefunden zu haben.
"Die Zeit wird lang auf einer derartig weiten Reise", sagte er, "haben Sie nicht während der Schiffsreisen immer Whist gespielt?"
"Ganz recht. Aber hier ist das nicht möglich. Ich habe weder Karten noch Partner."
"Da können wir Abhilfe schaffen. Karten kann man sicher kaufen. In amerikanischen Eisenbahnzügen gibt es einfach alles. Und Partner? Vielleicht kann die junge Dame…"
Nur wenige Minuten später saßen Phileas Fogg, Mrs. Aouda und der Detektiv vor einem tuchbezogenen Spieltisch und begannen die erste Partie Whist.
"Jetzt haben wir ihn festgenagelt", sagte sich Passepartout. "Er wird sich nicht mehr vom Platz rühren."
Der Zug arbeitete sich weiter durch die Rocky Mountains. Nach dem Mittagessen, nahmen die Partner ihr Spiel wieder auf. Da ertönte plötzlich ein gellendes Peifensignal, und der Zug stand.
Mr. Fogg forderte seinen Diener auf, nachzusehen, was passiert sei. Dieser sprang aus dem Wagen. Draußen auf den Schienen hatten sich bereits etwas 40 Fahrgäste versammelt, unter ihnen auch Oberst Stamp W. Proctor.
Der Lokomotivführer und der Zugführer unterhielten sich mit einem Streckenwärter. Passepartout fing einige Worte auf.
"Nein, Sie kommen auf gar keinen Fall hinüber. Die Brücke von Medicine Bow ist beschädigt und würde unter dem schweren Zug endgültig zusammenbrechen."
Diese Brücke war eine Hängekonstruktion über einem Wildbach. Bis dahin war es noch etwa eine Meile. Passepartout erstarrte. Er wagte nicht seinem Herrn die Wahrheit zu sagen.
Der Steckenwärter erklärte, dass man von Omaha einen Zug entgegen schicken würde. Bis zur Station von Medicine Bow müsse man ungefähr zwölf Meilen durch die schneebedeckte Landschaft laufen. Die Reisenden, allen voran der Oberst begannen laut zu schimpfen.
Nur einer blieb ruhig; Phileas Fogg war so in sein Spiel vertieft, dass er die Vorgänge draußen einfach nicht wahrnahm. Als Passepartout sich bereits wieder aufmachte, seinem Herrn alles zu berichten, rief der Lokomotivführer plötzlich: "Meine Herren, ich wüsste noch ein Mittel, um über die Brücke zu kommen."
"Über die Brücke?", wiederholten die Reisenden.
"Über die Brücke! Mit diesem Zug hier."
"Aber die Brücke steht doch kurz vor dem Einsturz", sagte der Oberst.
"Und wenn schon! Wenn wir den Zug mit Höchstgeschwindigkeit über die Brücke jagen, könnten wir es schaffen."
"Donnerschlag", entfuhr es Passepartout.
Einige Reisende begeisterten sich sofort für diesen Plan. Am meisten war Oberst Proctor davon angetan. Schließlich stimmten die Reisenden für den Vorschlag des Lokomotivführers.
Der Franzose, der den Plan für sehr verwegen hielt, wollte den Vorschlag machen, die Reisenden zu Fuß über die Brücke zu schicken und den Zug leer folgen zu lassen. Aber Oberst Proctor ließ ihn nicht zu Wort kommen.
So begaben sich die Fahrgäste in die Wagen zurück. Passepartout ließ kein Wort über die Ereignisse verlauten, und die Whist-Spieler waren nach wie vor ins Spiel versunken.
Gleich darauf hörte man das Pfeifensignal. Der Lokomotivführer hatte den Rückwärtsgang eingeschalten, damit der Zug Anlauf nehmen konnte. Beim nächsten Signal fuhr er vorwärts: er wurde schneller und schneller, so schnell, dass einem angst und bange werden musste. Die Kolben machten zwanzig Stöße in der Sekunde, die Radachsen begannen in den Schmieröllagern zu rauchen. Der Zug raste jetzt mit einer Geschwindigkeit von 100 Meilen pro Stunde, und die Reisenden spürten, dass die Räder kaum noch die Schienen berührten.
Die hohe Geschwindigkeit hob das Gewicht des Zuges auf. Und das Wagnis gelang! Es ging blitzschnell. Niemand hatte die Brücke überhaupt wahrgenommen! Der Zug war, fast möchte man sagen, von einem Ufer zum anderen gesprungen! Erst fünf Meilen jenseits der Bahnstation gelang es dem Lokomotivführer, die Geschwindigkeit wieder zu drosseln.
Unmittelbar hinter dem durchjagenden Zug aber waren die Trümmer der Brücke mit lautem Getöse in die reißenden Gewässer des Medicine Bow gestürzt.