Es war einmal eine prächtige hoch gewachsene Tanne von überragender Haltung, namens Amalie von der Fichte, die just in der Vorweihnachtszeit inmitten ihrer Schwestern dicht zusammengedrängt auf dem Marktplatz zum Verkauf stand. Eine watteweiche, dicke Schneedecke hatte sich wie ein jungfräuliches weißes Kleid auf den Zweigen niedergelassen. Plötzlich ein geheimes Schwirren in der Winterluft: Weihnachtselfen umflatterten die wartenden Tannenbäume. Aufgeregt bewegten sie ihre silbernen Flügelchen - wer sie dort oben sehen konnte, bewunderte die schneeig-weißen, weit fallenden Gewänder. Ja, jene Tanne dort, die ihre Spitze so hochmütig noch ein wenig weiter in die frostige Luft streckte, wollten sie für ihren weihnachtlichen Streich ausersehen. Denn demutsvoll und bescheiden sollte ein Tannenbaum sein und nur als beschützende Gestalt über der ehrwürdigen Krippe mit dem Jesuskindlein, der Hauptperson des christlichen Festes, wachen. Doch nicht so Amalie: Voller Stolz überblickte die adelige Tanne das emsige Treiben, das auf dem Platz vor der Kirche herrschte. Sie war sich gewiss, dass sie die herrlichste Tanne im ganzen Land war. Zuckerbäckerartige Häuserfronten begrenzten den mit buckligen Pflastersteinen bedeckten Flecken malerisch. Heimelig beleuchtete Fenster schauten geruhsam auf die vielen Menschen, die eifrig und zielstrebig von Laden zu Laden eilten, um alle Dinge für das bevorstehende Weihnachtsfest zu kaufen. Dazu gehörte selbstverständlich der Weihnachtsbaum in seinem verheißungsvoll duftenden Nadelkleid. Auch in Senator Sellmanns Haus durfte dieser strahlende Mittelpunkt des Festes keinesfalls fehlen. Der würdevolle ältere Herr stand suchend mit seiner Gattin Mathilde vor dem städtischen Tannenwald. Wählerisch glitten seine prüfenden Augen über die kleinen, größeren, geraden und weniger geraden Bäume. Amalie reckte sich und schüttelte diskret ihre Zweige in die schönste Form. Und tatsächlich - seine Aufmerksamkeit blieb an der fraglos makellosesten Tanne hängen. Er war sich sofort mit seiner Mathilde einig: Diese sollte es sein - und keine andere!
Amalie wurde in das mit hanseatischer Harmonie schlicht eingerichtete Stadthaus des Senators an der Alster gebracht und stand nun erstmal dunkelgrün und schlicht in der großen Diele. Senator Sellmann saß in seinem Ohrensessel und dirigierte die Schar der Bediensteten beim Schmücken des Weihnachtsbaums. "Dorthin noch eine von den roten Kugeln!" und "Nein, doch nicht so weit oben - tiefer müsst ihr das Glöckchen hängen!" Dann aber schmückten goldenes verführerisch glitzerndes Lametta, bunt glänzende Kugeln und filigran geschnittene Engel im Flitterkleidchen die Zweige auf das Vortrefflichste. Amalie verfolgte diesen aufregenden, festlichen Akt mit ungläubigen Blicken. Würde das Ergebnis ihre hohen Erwartungen erreichen? Würde sie auch allerprächtigst geschmückt dastehen? Leckeres Zuckerwerk wurde an den untersten Zweigen befestigt, auf dass die Kinder sich daran erfreuen könnten. Edle weiße Wachskerzen wurden angesteckt und als höchste Krönung auf die Spitze, dirigierte Senator Sellmann den goldenen Weihnachtsengel mit dem geheimnisvoll lächelnden Gesicht aus Bienenwachs und dem feinen, zarten Engelshaar. Nun war es schon später Abend, aber Senator Sellmann und seine Mathilde standen zufrieden vor dem Prachtstück von Weihnachtstanne. Eitel wie sie war nahm sie diese Meinung als unfragliche Gabe an ihre Wohlgestalt und blickte selbstgefällig auf die diensteifrige Schar hernieder, die nun bewundernd zu ihr aufsah.
Der Tag des Heiligen Abends dämmerte herauf. Noch stand Amalie trotz ihres prächtigen Schmucks unbeachtet in der halbdunklen Diele. Aber sie wusste: Ihre Zeit würde kommen, wo alle Hausbewohner nur sie anschauen würden. Mit erwartungsvoller Ungeduld zitterten ihre Zweige, so dass die Glöckchen daran leise klirrten. In der Nachmittagsdämmerung, als die Glocken alle Bürger des kleinen Städtchens in die Kirche zum Gottesdienst riefen, nickte Amalie dann doch ein bisschen ein. Sie erwachte jählings, weil viele kleine Hände an ihr zupften. Die Weihnachtselfen pflückten unter leisem Kichern und Lachen alle kostbaren Anhängsel, die so mühevoll angebracht wurden, wieder aus dem Baum. Amalie durchfuhr ein wilder Schrecken: Nein, oh nein - wer beraubte sie da ihres Festkleides! Ohnmächtig musste sie mit ansehen, wie die übermütigen Weihnachtselfen Stück für Stück abzupften. Sie waren so damit beschäftigt, ihren Streich in flinker Eile auszuführen, dass sie nicht bemerkten, dass sich ein Weihnachtskobold unter die flatternden Elfen gemischt hatte. Mit einem listigen, boshaften Lächeln näherte er sich der Baumspitze. Der erstickte raue Schrei der schutzlosen Tanne blieb in dem kecken Jubel der Weihnachtselfen ungehört. Unerbittlich umschlossen die kräftigen Hände des Kobolds die Tannenbaumspitze. Angstvolles Aufstöhnen Amaliens, das in einem letzten hauchzarten Seufzen ausklang, zeigte das Ende ihres kurzen dünkelhaften Lebens an. Der Weihnachtskobold konnte mit dem himmlischen Weihnachtsengel, seiner auserkorenen unschätzbaren Beute, ungesehen entschwinden. Amaliens einst so stolze Gestalt sank langsam, aber unaufhaltsam auf die Dielenbretter. Als die Weihnachtselfen dies gewahr wurden, blieb ihnen das glückselige Glucksen im Halse stecken. In stummem Entsetzen sahen sie auf das gebrochene Geschöpf - leblos, bloß, ihres herrlichen Schmucks beraubt. Verzweifelt wisperten sie miteinander in der Suche nach einer Erlösung aus diesem Albtraum. "Oh, nein, welch in Unglück! Was sollen wir tun?" "Wie konnte das geschehen?" "Wer kann helfen?" Das hatten sie nicht gewollt; es sollte doch nur ein lehrreicher Denkzettel für Amalie sein! Die hochehrwürdige Weihnachtselfe Maria fasste sich als erste, leistete die einzige Hilfe, die sie noch geben konnte: Mit ihren Goldzauberkörnchen belebte sie die am Boden liegende Gestalt für die Dauer der Weihnachtsnacht. Geschwind befestigten die Elfen den entwendeten Baumschmuck. Die jüngste Weihnachtselfe Julia wurde dazu ausersehen, die Spitze des Baumes zu zieren. Tapfer huldvoll lächelnd täuschte sie die andachtsvoll heimkehrende Senatorenfamilie. Niemand entdeckte den unechten Weihnachtsengel. Die staunenden Augen der Kinder und die anerkennenden Worte der Sellmanns beglückten Amaliens Herz. "Sieh nur, diese wunderschöne Tanne - wie groß sie ist", sprach Senator Sellmann zu seiner Mathilde. Es wurde noch ein stimmungsvoller, wundersamer Heiligabend, den Amalie von der Fichte wie in einem Traum wahrnahm und nur bis zur Morgenröte des ersten Weihnachtstages überlebte.