Es war einmal ein 24. Dezember. Wie jedes Jahr warteten Charly und Paul auch dieses Jahr auf den Weihnachtsmann. Leider war in diesem Jahr die Omama nicht mehr dabei. Sie war im Frühjahr sehr krank geworden und dann gestorben. Heute, am Heiligabend, vermissten sie alle ganz besonders. Omama hatte in all dem Weihnachtsdurcheinander immer Zeit für die Kinder. Ganz besonders gut konnte sie Sterne aus Goldpapier basteln. Charly und Paul liebten es, mit Omama am Tisch zu sitzen und sich immer neue, noch filigranere Muster für die Sterne auszudenken. Die schönsten der Sterne wurden dann am Weihnachtsbaum aufgehängt.
Eine andere Tradition war der Nachmittagsspaziergang der Kinder mit Omama. Sie wanderten in das nahe Wäldchen und brachten den Tieren Weihnachtsgeschenke: Möhren für die Hasen, Salz für die Rehe, Rotkohl und meistens auch etwas hartes Brot.
Beim Mittagessen sagte Mutti: "Dieses Jahr werden die Tiere gar nicht Weihnachten feiern können. Papa und ich können nicht mit in den Wald kommen. Wir haben noch so viel zu tun." "Och," antwortete Paul, "dann ist das ja gar kein echtes Weihnachten! Das muss gehen!" Doch auch der Vater sagte: "Nein, dieses Jahr nicht. Ihr seid noch zu klein, um allein in den Wald zu gehen und von uns kann euch keiner begleiten!"
Als die Suppe leer gelöffelt war, durften Charly und Paul im Garten spielen. Ziemlich lustlos buddelten sie im Sandkasten ein Loch. Charly blickte auf und sagte zu Paul: "Das ist echt nicht richtig wie Weihnachten. Schnee liegt nicht, Omama nicht da und nicht einmal in den Wald dürfen wir." Paul stimmte ihr zu: "Ja, voll doof ist das! Und dabei habe ich gesehen, wie Mutti vorhin einen fetten Rotkohlstrunk auf den Kompost gebracht hat." Charly hatte eine Idee: "Und wenn wir einfach los gehen? Nur ganz schnell bis zu der Futterkrippe und zurück." "Au ja!" rief Paul, "ich hole aus dem Keller noch ein paar Möhren." "Und Salz!", rief ihm Charly hinterher. "Ach nein, lieber nicht, mache besser einen Bogen um die Küche, dort wird Mutti sein."
Kurz darauf konnte man zwei Kinder sehen, die mit schnellen Schritten in den Wald stürmten. Das kleinere trug ein Bund Mohrrüben und das größere den Rotkohlstrunk. Sonst war weit und breit kein Mensch zu sehen.
Den Weg waren Charly und Paul schon oft gegangen. An der alten Eiche bogen sie links ab, dann quer über die große Rodelwiese, auf der leider kein Schnee lag. Von da ging es weiter in das Fichtenwäldchen hinein. Unter den Bäumen war es recht finster, denn die Wipfel der Bäume bildeten ein dichtes Dach und ließen nur wenig des ohnehin spärlichen Tageslichtes nach unten. Am Himmel trieben düstere Wolken.
Aber da waren die Kinder auch schon am Ziel. Es sah aus, als sei der Förster bereits da gewesen, denn die Futterkrippe war frisch gefüllt mit duftendem Heu. Charly und Paul legten ihre Mitbringsel dazu und wollten schnell zurücklaufen, als sie ein Knacken im Unterholz hörten. Charly zupfte Paul am Anorak: "Komm, wir verstecken uns dort hinter dem Bäumchen", flüsterte sie ihm zu. Beide krochen hinter die tief herabhängenden Zweige einer jungen Fichte. Von hier sahen sie zwei Rehe aus dem Dickicht hervortreten. Sie waren gekommen, um sich an dem Heu zu laben. Nun kamen auch noch ganz viele Häschen, wahrscheinlich war es eine komplette Familie. Es sah sehr putzig aus, wie sie die Mohrrüben mümmelten. Jetzt spielten zwei kleine Häschen sogar eine Art Tauziehen! Charly und Paul vergaßen, schnell zurück nach Hause zu gehen.
Unbemerkt hatte es begonnen zu schneien. Immer dichter fielen jetzt dicke Flocken und wirbelten um die Kinder. Wind kam auf und trieb nun dichte Schwaden eisiger Kristalle durch die Luft. Paul sprang auf und rief: "Charly, komm heim!" Erschrocken hoppelten die Hasen in den Wald und die Rehe verschwanden lautlos im Unterholz. Charly fasste Paul an der Hand und dann liefen sie los. Doch wohin? Erschrocken blieben sie gleich wieder stehen. Wo war der Weg? Wegen des Neuschnees war es überall weiß! Der gesamte Waldboden war bereits verschneit. Durch die Bäume und das Schneegestöber konnten die Kinder kaum etwas erkennen. Auf gut Glück wanderten sie los in eine Richtung, in der ihnen der Wald etwas lichter erschien. Paul bekam Angst. Zitternd fragte er Charly: "Was ist, wenn wir den Weg nicht finden? Ob es hier Wölfe gibt?" Für Charly war es genauso unheimlich, aber sie antwortete tapfer: "Nein, Wölfe gibt es hier nicht mehr. Ich glaube, Wildschweine leben hier noch, aber die verstecken sich vor den Menschen." Mit der einen Hand wehrte sie Schnee und Äste ab, mit der anderen zog sie Paul hinter sich her. So bahnten sie sich ihren Weg durch das Dickicht. Paul blieb stehen: "Du Charly, hätten wir nicht schon längst auf der Rodelwiese sein müssen? Wir laufen schon so lange!" Auch Charly war sich schon unsicher und nun kam ihr alles ganz unbekannt vor. War sie hier überhaupt schon mal gewesen? Die Fichten waren viel größer als in dem ihr bekannten Teil des Waldes. Sie hatten sich verlaufen! Der Sturm blies weiter und begann schon, ihre Spuren zu verwehen. Charly rief: "Schnell Paul, zurück zur Futterkrippe, solange unsere Spuren noch zu sehen sind!" Sie rannten. Die Zweige schlugen Charly ins Gesicht, Brombeerranken rissen und zerrten an Pauls Beinen! Egal, sie mussten das Futterhäuschen erreichen, bevor Wind und Schnee ihre Spur ausgelöscht hatten. Stellenweise war sie bereits verweht.
Sie hatten Glück. Obwohl es nun nahezu dunkel geworden war, erreichten sie die Futterkrippe. Jetzt war hier kein Tier zu sehen, aber schlimmer war, dass auch der Weg nach wie vor nicht zu sehen war. Paul lief den gesamten Rand der Lichtung entlang. Es musste doch möglich sein, die Stelle zu finden, wo sie heute Mittag aus dem Wald gekommen waren.
Charly hatte sich zusammengekauert und unter die Krippe gesetzt. Sie fror entsetzlich, so dass sie sich Stroh von oben herunterzupfte, um sich darin einzuwickeln.
Gerade wollte Paul zu ihr schlüpfen, als die Bäume gewaltig zu rauschen begannen. Die Äste bogen sich auseinander und es trat ein stattliches Rentier hervor. Es schüttelte sein Geweih, was recht lieblich klang, denn in dem Geweih waren viele kleine Glöckchen befestigt. Dann trabte das Rentier zu der Futterkrippe und begann in großen Ladungen das Heu zu verschlingen. Auf einmal schrie das Heu: "Meine Mütze!" Natürlich war das nicht das Heu, sondern Charly, die nun ihren Kopf herausstreckte und fürchterlich erschrak, als sie über sich den rieseigen Rentierkopf erblickte. Paul, der alles vom Rande der Lichtung aus beobachtet hatte, begann zu lachen und vergaß darüber ganz seine Angst.
Nachdem das Rentier das letzte Heu hinuntergeschluckt hatte, sagte es: "Guten Abend, die Herrschaften! Ich bin außerordentlich erfreut, Sie hier anzutreffen. Sicher können Sie mir aushelfen. Ich kann den Weg nach Kleinauheim nicht finden. In diesem schrecklichen Schneegestöber habe ich mich verspätet! Wissen Sie, eigentlich sollte ich hier vom Weihnachtsmann erwartet werden, um meinen Platz im Gespann vor dem Schlitten einzunehmen. Ich muss ihn verpasst haben! Haben Sie ihn vielleicht gesehen? Ein älterer Herr mit einem roten Mantel und einer roten Zipfelmütze. Zugegebenermaßen ein recht ungewöhnlicher Aufzug, aber das muss so bleiben wegen der Tradition." Charly und Paul hatte es die Sprache verschlagen, sie konnten gar nichts sagen. Das nutzte das Rentier gleich aus und sprach schon weiter: "Oh, entschuldigen Sie bitte, ich vergaß, mich vorzustellen. Mein Name ist Manfred, aber alle nennen mich Manni. Und wie lauten ihre ehrenwerten Namen?" Paul fasste sich als erster: "Guten Tag. Ich bin Paul und dort unter dem Heu sitzt meine Schwester Charly." "Angenehm, Ihre Bekanntschaft zu machen!" Manni nickte beiden Kindern bedächtig und freundlich zu. Paul sprach weiter: "Wir wohnen in Kleinauheim. Aber", ein Kloß schien in seiner Kehle zu stecken, "wir finden den Weg aus dem Wald heraus nicht mehr." Er begann zu weinen: " Der Schneesturm hat uns überrascht und nun sieht alles so gleich aus. Wir wissen gar nicht, in welche Richtung wir gehen sollen", schluchzte er. Charly klapperte dazu mit den Zähnen. Die Kälte war ihr längst in alle Glieder gefahren. Wenigstens hatte der Sturm aufgehört zu toben. Da stand nun ein trauriges Trio auf der Lichtung: Charly bibberte, Paul weinte und Manni guckte dazu recht ratlos drein. Er kannte den Weg ja auch nicht!
Da fuhr Manni wieder der gute Duft des Heus in die Nase und er begann zu grinsen und stürzte sich wieder auf die Futterkrippe. Gleich begann er genüsslich zu kauen. "Sie haben es gut", schniefte Charly. "Wir haben auch Hunger, aber wir können ja kein Heu fressen!" Manni hielt inne. Mit schief gelegtem Kopf dachte er kurz nach: "Ich denke, ich kann für Abhilfe sorgen. Holt doch mal den Beutel von meinem Rücken herunter." Geschwind kletterte Paul auf die Futterkrippe und löste die Knoten, mit denen der Lederbeutel am Zaumzeug des Rentiers befestigt war. Er warf Charly den Beutel hinunter und sprang hinterher. In dem Beutel fanden sie: Lebkuchen, Marzipanbrot, Nüsse, Zimtsterne und andere Leckereien. Das beste aber war eine Thermoskanne mit heißem Hagebuttentee. Manni erklärte den Kindern: "Das ist der Proviant für den Weihnachtsmann. Weil sein Weg durch die Nacht so lang ist, flitze ich zwischendurch immer wieder schnell zum Nordpol, um den Beutel aufzufüllen. Er wird mir nicht böse sein, wenn ich euch zu essen gebe. Er ist mir nur böse, wenn ich den anderen nicht bald wieder ziehen helfe." Schweigend kauten die drei und hingen ihren Gedanken nach. Die Wolkendecke riss auf und ein paar Sterne begannen zaghaft zu glitzern und zu funkeln. Die Kinder kuschelten sich an Manni. Sie fühlten sich auf der Wiese nicht mehr so verloren und auch wenn Manni zwar nicht den Weg wusste, gab ihnen das große Rentier Zuversicht und Wärme.
Charly begann zu erzählen. Sie erzählte wie sie in all den Jahren zuvor mit der Omama hier bei der Krippe waren. Nicht ein einziges Mal hatten sie Schwierigkeiten den Weg nach Hause zu finden. Omama hätte den Weg ganz bestimmt auch bei Schneegestöber gefunden. Charly stieß einen Seufzer aus: "Ach, wenn Omama doch nur hier wäre!" Beinahe hätte Paul wieder geweint. Aber Manni schüttelte sein Geweih und mit ihm alle seine Glöckchen. "Kopf hoch, kleiner Mann!", sprach er ermunternd, "heute ist die Weihnacht! Nichts ist so schlimm, dass es nicht wenigstens einen Ausweg gibt!" Paul blickte auf zu dem Rentier und dann schaute er weiter hinauf in den Sternenhimmel. Viele Sterne blinkten dort. Paul erinnerte sich an die Indianer, die glauben, dass jeder Stern im Himmel einmal ein Mensch auf Erden war. Während er so schaute und träumte und sich nach Hause wünschte, begann ein funkelnder Stern direkt über ihnen zu wackeln und zu tanzen. Er ruckelte und zuckelte so lange, bis er vom Himmel herab fiel. Der Stern fiel und fiel, bis er genau vor den Füßen der Kinder liegen blieb. Und als sie ihn nun so aus der Nähe sahen, erkannten sie einen funkelnden glitzernden Goldpapierstern, so schön, wie nur die Omama sie ausschneiden konnte. Sogar Manni, der ja sicher schon so manches Wunder erlebt hatte, sagte nur "Ohhh!" und starrte mit offenem Mund auf den Stern. Charly wollte den Stern aufheben. Doch der rollte davon. Sie lief hinterher, doch der Stern rollte weiter. Gerade verschwand er neben einer kleinen Fichte, da rief Manni: "Stop, warte, wir kommen mit! Los, Paul, steig auf! Charly, schwing dich auf meinen Rücken!" Nachdem Charly zu ihrem Bruder auf den Rentierrücken geklettert war, folgten sie dem Stern in den Wald hinein. Der Stern rollte mal nach rechts und mal nach links und meistens geradeaus. Hinter ihm trabte das Rentier durch den frisch verschneiten Wald. Bald wurden die Abstände zwischen den Fichten größer und Charly rief: "Da ist die Rodelwiese! Wir sind auf dem richtigen Weg!" Nun ging es hurtig wie der Wind über die Wiese. Schon kam die alte Eiche in Sicht, die ihre knorrigen Äste in den klaren Nachthimmel reckte.
Hier stoppte Manni und fragte: "Sind die Lichter dort hinten Kleinauheim?" "Jaaa", riefen Charly und Paul aus einem Munde. "Wir haben es gefunden! Dank deiner schnellen Beine und dem kleinen Stern!" Von ferne hörten sie die Kirchenglocken läuten und fühlten sich mit der Umgebung so vertraut, dass alle Angst vergessen war. Manni bat die beiden Kinder hier abzusteigen, denn zu seinem Platz vor dem Schlitten müsse er alleine weiter laufen. "Lebt wohl meine beiden Freunde, ohne euch würde ich mich sicher immer noch am Heu laben und hätte nie und nimmer so schell den rechten Weg aus dem Wald gefunden." Charly fragte: "Sag mal, wenn du doch ein Rentier vom Weihnachtsmann bist, kannst du dann eigentlich fliegen?" "Ja natürlich!", antwortete ihr Manni. Ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus und wenn er eine Hand gehabt hätte, so hätte er sie sich sicherlich vor die Stirn geschlagen. " Ich hätte ja nur über die Wipfel der Bäume hinauffliegen müssen, um die Lichter der Stadt zu sehen!" Alle lachten fröhlich. Paul blickte zärtlich auf den Stern: "Aber so war es auch gut. Vielleicht sogar noch besser." Dann nahm er das goldene Papier, faltete es sorgsam zusammen und ließ es in der Hosentasche versinken.
Manni erhob sich in die Luft. Seine Hufe griffen scheinbar ins Leere und doch trabte er immer schneller davon. Bald konnten ihn die Kinder nicht mehr sehen. Nur das Läuten der Glöckchen hörten sie noch. Es entfernte sich in Richtung des Kirchturms und wurde immer leiser und leiser.
Hurtig liefen Charly und Paul heimwärts. Sie schlüpften durch das Gartentor und machten vor Freude und Erleichterung ein paar Purzelbäume im Neuschnee. Denn auch hier hatte der Schneesturm alles verzaubert.
Das Küchenfenster öffnete sich und die Mutti rief: "Charly, Paul, es wird Zeit, dass ihr mal wieder herein kommt. Ich seid doch bestimmt schon ganz kalt!" Konnte das denn möglich sein, die Eltern hatten tatsächlich nichts von dem Ausflug der beiden gemerkt?
Im Kinderzimmer klebte Paul mit seiner Schwester den fantastischen Stern an das Fenster. Dann blickten sie lange nach draußen in die Dunkelheit, die ihnen nun gar nicht mehr so dunkel erschien. Sie hörten leise ein Glöckchen. War das Manni? Oder waren das die Eltern, die sie zur Bescherung riefen?