"Fangen musst du sie.
Hopp, hopp, hopp.
Los, los."
Er tanzt, lacht, dreht sich wie ein Kreisel, gluckst fröhlich, singt und springt in die Luft, so hoch wie er nur kann.
"Hopp, hopp, los, los, los."
Wie ein Kind erscheint er mir, vertieft in sein Spiel, für das er sich nicht schämt, vor all den Leuten, die seine seltsame Erscheinung nur am Rande wahrnehmen. Einen kurzen Moment halten sie inne um zu starren, bevor sie der graue Strom aus Mänteln, Schirmen und Hüten wieder aufnimmt und fortspült. Kaum, dass ihnen die Zeit bleibt, ungläubig die Köpfe zu schütteln.
Er ist oft hier, beinah jeden Tag finde ich ihn, wenn auch nicht immer so einfach wie an diesem Nachmittag. Manchmal sitzt er in einem der dunklen Hauseingänge, still und verloren, die Augen starr, ganz ohne Leben darin, als ob ihn die kalte Nacht schon dahingerafft hätte. An manchen Tagen finde ich ihn auf den Stufen des Domes, in der Mitte des Platzes, wie ein Jäger in seinem Hochstand, spähend, beobachtend. Auf die Menschen hat er es abgesehen, er betrachtet ihre Bewegungen, wie sie sich schieben, voll Ungeduld in die Geschäfte drängen, sich in den engen Räumen aneinander reiben, streiten, kaufen und aus diesen wieder hinaus, in den ewigen Regen flüchten.
Es kommt vor, dass der eine oder andere Passant ihm eine Münze zuwirft, ein Kind nähert sich scheu, legt ein Geldstück vor seine Füße, das der Vater ihm gegeben, für die gute Tat. Barmherzigkeit kann man lernen, besonders in der Weihnachtszeit. Zufrieden ziehen die Spender weiter.
Einzig, er nimmt es nicht. Das Geld bleibt auf dem kalten Pflaster zurück. Andere, deren Schuhe noch Sohlen haben und die dicke, saubere Mäntel tragen, scheuen sich nicht in die Knie zu gehen, kaum dass er seinen Platz verlassen hat.
"Hopp, hopp, hopp."
Wovon lebt er?, frage ich mich.
Erschöpft wischt er sich mit dem Handrücken über die von Schweiß und Regen nasse Stirne, muss sich für einen Moment abstützen, zu Atem kommen, lächelt erschöpft in die wankende Menschenwand vor ihm.
Er bewegt sich auf den Dom zu, sucht Schutz unter dem gotischen Gewölbe, welches sich über das Eingangstor spannt und die obersten der Stiegen trocken hält. Dort sitzt er, lächelt, begrüßt beinah jeden der unzähligen Kirchenbesucher mit Worten, die zu leise gesprochen werden, als dass ich sie in dem Stimmengewirr und dem prasselnden Regen hätte verstehen können. Wieder gibt es Geld, vor allem Touristen greifen in die Tasche - ich möchte wissen, was er sagt.
Vor dem Eingang herrscht Gedränge. Der Dom ist das Wahrzeichen unserer Stadt. Besonders in der Weihnachtszeit, mit all der Beleuchtung, der Festmusik und den Ständen ist es schwer durchzukommen. Ich reihe mich ein in die Schlange Wartender, Gläubiger, Kulturhungriger, nähere mich Schritt für Schritt einem der prunkvollsten Bauwerke Mitteleuropas - und ihm.
Aus einem der Seitentore tritt ein junger Geistlicher, stellt sich vor ihn, in dem Moment, der doch eigentlich mir gehört, beinah so, als müsse er mich vor diesem seltsamen Individuum auf den Stiegen schützen.
"Dies hier ist nicht der richtige Ort um zu betteln", höre ich den jungen Priester mit fester Stimme sagen und sehe einen Eifer in diesem unverbrauchten Gesicht, dessen Motor wahrer und vollständiger Gehorsam ist.
"Die Menschen kommen her um zu beten. Du bist im Weg. Momentan geht das nicht."
Wortlos setzt der Obdachlose seine durchnässte Mütze mit Ohrenschützern, die so lächerlich weit abstehen, auf, erhebt sich umständlich und macht sich daran zu gehen.
"Er bettelt nicht", höre ich mich voll Bestimmtheit sagen und bin nicht weniger davon überrascht als der Priester.
Andere Besucher verfolgen sie Szene interessiert, immer mehr Augen richten sich auf uns. Der Blick des jungen Geistlichen bleibt an den Münzen haften, die auf dem schmutzigen Steinboden liegen. Ein paar Cent geben Recht und Bestimmung zurück. Ich sehe das Lächeln und ärgere mich. Christenpflicht und Nächstenliebe möchte ich erstreiten, auch wenn ich selbst kein Christ bin und nur mich liebe. In diesem Moment spüre ich die Hand des Obdachlosen auf meiner Schulter - er bedankt sich nicht, gibt mir nicht Recht, sagt nur: "Niemand nimmt sich um den Herrgott an."
Dann schiebt sich ein strahlendes Lächeln in sein Gesicht, er klatscht in die Hände, ruft: "Kommt, kommt - wir gehen. Los, spät ist es, Zeit zu gehen."
Mit wem er spricht - ich weiß es nicht. Immer wieder dreht er sich um die eigene Achse, kichert, gibt Zeichen, muss überzeugen, bis er alle zusammen hat, wie er sagt.
"Alle?"
"Na alle eben."
Schließlich bricht er auf, taucht ein in die graue Menschenmenge, wird wieder ein Teil des Ganzen, zu dem er doch nicht gehört.
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Ich könnte heute zu ihr gehen. Ein wenig von Liebe sprechen, Pläne schmieden und mich für einen Moment dem Genuss hingeben, selbst an meine Worte zu glauben. In solchen Augenblicken betrachten wir einander nicht, berühren uns sanft, liegen Seite an Seite und starren in die Dunkelheit.
Dort wird eine Zukunft sichtbar.
Brennt hingegen das Licht, geht es um das Geschäft.
Ich habe mich immer gefürchtet, Hanna zu fragen wie alt sie ist. Dafür ist sie zu jung. Stattdessen ließ ich ihr meine Nummer zukommen, gab ihr mehr Geld und das Angebot zu helfen, wenn sie es denn wolle. In jener Nacht genoss ich meine lauten Schritte in einsamen Straßen, fühlte deutlich die Bestimmung in mir wachsen, ihre und meine, auf dem Weg nach Hause.
Inzwischen komme ich regelmäßig zu ihr. Es gibt keinen Anfang mehr, aber auch kein Ende, verbissen pressen wir unsere Körper aneinander, erfüllen unsere Aufgaben, jeder so gut er kann. Danach wandere ich schweigend durch dunkle Gassen, zurück in meine Wohnung, schäme mich, bis zum nächsten Mal.
Jingle Bells tönt aus dem Fernseher, während ich meine Jacke überstreife, die Weihnachtsshow wird von Werbeeinblendungen unterbrochen. Das Christkind verkauft jetzt Mobiltelefone. Schon in wenigen Sekunden wird es Parfum oder Kleidung sein.
Ich schalte den Fernseher nicht aus. Er wird mich nach meiner Rückkehr mit Musik, Tanz, Gewalt und Sex in den Schlaf wiegen, die Chance nehmen, einen Blick in die andere Welt zu werfen, so dunkel und still, dass stets die Angst in mir hochsteigt. Es ist noch lange Zeit, bis die Sonne aufgeht.
.
Der Hauptplatz liegt um diese Zeit verlassen da, feine Nebelschleier halten den Dom umsponnen. Der Regen hat nachgelassen. Drei Jugendliche drängen sich in einer Hauseinfahrt zusammen, starren grinsend auf ein Handydisplay, mit derselben Lüsternheit, die ich in meinem Herzen zu Hanna trage.
Schon tut sich eine enge Gasse auf, an deren Ende diese Wohnung liegt, in der das Licht niemals ausgeht.
"Los, los, kommt, kommt."
Hinter mir.
Ich sehe, wie er über den Hauptplatz tanzt, höre ihn von weitem kichern. Er klettert die Stufen des Domes empor, baut sich vor dem mächtigen Tor auf und schmettert lautstark eine Arie in die Nacht, welche sich mit etwas Fantasie als die des Bajazzo erkennen lässt.
Irgendwo bellt ein Hund, Lichter flackern in den Häusern auf, gefolgt von wüsten Drohungen. Nach der Polizei wird gerufen.
Gestört durch diese Darbietung suchen die drei Burschen das Weite und auch ich fühle mich unangenehm berührt, mich in meiner Absicht überführt. Noch bevor ich in das Dunkel der Häuserschluchten entkommen kann, läuft er auf mich zu, ruft, beschämt mich mit seiner unbekümmerten Heiterkeit noch mehr.
"Du - du solltest das nicht tun", ächzt er, von dem raschen Lauf noch außer Atem.
Verständnislos schüttle ich den Kopf. "Was nicht tun?" Ich halte Abstand.
Verlegen blickt er sich um, tritt von einem Bein auf das andere, lächelt verschmitzt, wagt sich schließlich näher heran, flüstert: "Na das." Er bewegt die Hüften vor und zurück, kichert lautstark, schlägt mir auf die Schulter, als ob wie alte Freunde wären. Dann wird sein Gesicht plötzlich ernst, er nimmt meine Hand: "Ist doch Weihnachten morgen."
Und so laut, dass ich erschreckt zurückweiche: "Da sollte man ein Wunder tun!"
In einer Wohnung direkt über uns flammt Licht auf, ich höre wie ein Fensterflügel sich öffnet.
"Sie wird dich nicht glücklich machen, heute Nacht." Seine Stimme klingt nun warnend, als ob ein Vater zu seinem Sohn spricht.
Woher nur weiß er was ich vorhabe? Ich fühle das heiße Blut in mein Gesicht steigen.
"Halt endlich die Schnauze, du Idiot", grölt jemand aus dem Stock über uns.
Ich flüchte.
"Sie wird dich nicht glücklich machen", ruft er mir nach.. Wüste Beschimpfungen prasseln aus der Wohnung auf den Obdachlosen herab.
Nur noch wenige Schritte, dann liegt der Platz hinter mir.
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Hanna ist tot.
"Hab ich es dir nicht gesagt - ich hab es dir gesagt. Hab dich gewarnt." Seine Stimme klingt vorwurfsvoll.
"Ja, hast du."
Woher er das alles weiß? Er deutet schräg nach oben.
"Sie haben es mir erzählt. Sie erzählen mir alles." Seine Stimme wandelt sich in ein Flüstern.
"Besonders der kleine Fette dort." Er zeigt auf einen Dachfürst. Nichts ist zu sehen. "Er mag es nicht, wenn ich ihn so nenne. Fett, meine ich."
Plötzlich stößt er mich mit dem Ellenbogen an, grinst breit über das ganze Gesicht. "Der hat manchmal Geschichten auf Lager, ich kann dir sagen, die würden dem Christkind nicht gefallen." Diese Feststellung untermauert er mit einem herzhaften Lachen.
Ich ignoriere ihn.
Die Lichter der Stadt malen ein schmutziges Orange in den Nachthimmel. In den Fenstern der Häuser senden blinkende Dekorationslampen ihre Weihnachtsbotschaft aggressiv in die Dunkelheit.
Er kennt Hanna. Muss sie kennen. Obdachlose, Huren - solche Gestalten haben Beziehungen zueinander. Die Not treibt sie zusammen. Und er kennt mich. Wahrscheinlich hat sie von mir erzählt, auch von den Stunden, in denen kein Licht brannte.
Längst hat der feine Regen unsere Kleidung durchnässt, aber die Kälte erreicht mich nicht.
Hanna, die Hure, ist gestorben. Und unser großes Vorhaben, unseren Plan, hat sie mitgenommen, eingesperrt in ein Pult, bis die Zeit ihn völlig zerfressen hat. Hanna, die Schülerin, kann ihre Zukunft nun auch im Licht sehen.
Lange Zeit gehen wir schweigend nebeneinander her, umrunden den Dom, sind uns so gnadenlos ähnlich in unserer Verlorenheit.
"Sie meinen, ich soll dich einladen, bevor du noch irgendwelche Dummheiten machst", sagt er schließlich und seine Stimme klingt ruhig, vernünftig, so als wäre er kein Irrer, der irgendwo unter der Brücke schläft.
"Sie? Ach ja, natürlich. Hat das der kleine Fettsack gesagt?"
Nach Hause kann ich jetzt nicht. Dort wartet zu viel reales Leben auf mich um es alleine bewältigen zu können.
So gehe ich mit ihm, weil es keinen anderen Ort für mich gibt. Ich möchte heute keine Zukunft in der Dunkelheit sehen, will lieber in der Gegenwart verrotten und mich dabei fühlen, sinken, stürzen und verschwinden. Erst danach lohnt es sich, neu zu beginnen. Vielleicht.
"Ich habe ein Geschenk für dich!"
Seine Wohnung liegt am Ende einer kleinen Gasse, gut versteckt hinter Containern für Altglas und Papier. Zwei gewaltigen Pappkartons, mit Klebeband verbunden, drängen sich so gut es geht in eine Mauernische, um dem Regen zu entgehen. Abgedeckt mit dicker Plastikfolie scheint diese Behausung tatsächlich etwas Schutz zu bieten, die ewige Nässe dieses seltsam warmen Winters aufzuhalten. Er schiebt das Plastik zu Seite und bittet mich herein.
Eine kleine Kerze wird angezündet, dann noch eine. Es stinkt nach Urin und Moder. Überall Plastikbeutel, prall gefüllt mit Unrat. Ich habe Hemmungen mich zu setzen, der Boden ist feucht und dreckig, übersäht mit Abfall. Längst hat das Wasser seinen Weg gefunden, dringt wie ein Geschwür immer tiefer in die durstigen Wände vor, dunkle Flecken breiten sich auch über das Dach aus, zerfressen das kleine Häuschen gnadenlos.
"Wie heißt du eigentlich?"
Er wühlt in seinen Habseligkeiten, schiebt seine Schätze von einer Seite zur anderen, die doch eigentlich nur Dreck sind. Schließlich kommt eine große Flasche zum Vorschein, zwei Liter Inhalt.
"Ich habe ein Geschenk für dich", stellt er zufrieden fest und reicht mir den Fusel. "Das wird uns beschützen", sagt er mit erhobenem Zeigefinger.
Er deutet, sich solle doch trinken.
"Beschützen? Wovor?"
Ungeduldig sieht er mich an, beinah schon böse. "Vor Weihnachten natürlich."
Ein ekelhaft süßlicher Geruch steigt aus dem Gefäß empor, vermischt mit dem Odem eines ungepflegten Mundes, der wohl schon zu oft daran ansetzte.
"Wir besaufen uns jetzt. Dann schlafen wir und wenn wir wieder aufwachen, ist schon alles vorbei." Er reibt sich die Hände. "Keine Glockenspiele, Weihnachtslieder, Christbaumkerzen mehr. Keine strahlenden Kindergesichter vor dem Weihnachtsbaum", er zieht eine derbe Grimasse, "der Braten ist verputzt, die Extraportion Liebe verbraucht. Wenn wir aufwachen, dann wird alles so sein wie immer. Wir werden nichts spüren."
Ungeduldig zappelt er hin und her, sieht mich an, starrt auf die Flasche. "Und jetzt trink. Wir haben nicht mehr viel Zeit. Weihnachten hat schon begonnen."
"Wie heißt du ", frage ich erneut.
Trinken soll ich. Vergessen. Entkommen. Der Einsamkeit nachlaufen, weil ich sie nicht spüre, solange sie mich umgibt.
"Was hältst du davon, wenn ich dir ein Geschenk mache?"
Mehr und mehr lässt diese schmutzige, halb verhungerte Gestalt ein Gefühl in mir aufsteigen, eine Empfindung, wie ich sie schon einmal hatte, als ich Hanna das erste Mal traf, sie mich zu sich in die Wohnung nahm. Der schmächtige Körper, auf dem Bett sitzend, frierend, den Kopf gesenkt. Nackt.
Da ist Überlegenheit.
Eine Kraft?
Ich kann ihn zu einem Menschen machen. Richtiges Essen in seinen Mund schaufeln, den Dreck von seinem Körper schwemmen. Ich kann ihn nach Rosen duften lassen, ihn kleiden, formen, nach dem Ebenbild unserer Gesellschaft.
Ich kann. Wenn ich will, bin ich Weihnachten.
"Verstehst du denn nicht." Seine Stimme wirkt flehend. "Das Monstrum wird kommen. Weil niemand uns beschützt." Er nimmt meine Hand, drückt sie ungewohnt fest. "Wir sind so schrecklich wehrlos."
Der Gedanke, eine gute Tat zu vollbringen, beflügelt mich. Ich möchte etwas tun. Muss etwas tun. Sehe mich auf dem richtigen Pfad, zu meiner Wohnung gehen, in der kein Fernseher mehr läuft, kann Weihnachten jeden Tag feiern, weil ich es danach mehr verdient habe als alle anderen. Mein eigenes Weihnachtsfest.
"Komm mit mir", sage ich freundlich. "Du isst, dann ruhst du dich aus. Und morgen sehen wir weiter."
Ich denke an Sozialversicherungen, Arbeitsamt, Bildung. Ich fühle mich wohl. Er aber scheint meinen Vorschlag nicht wahrzunehmen.
"Ich habe viele Männer gekannt, die so waren wie ich", sagt er, "und alle sind sie verschwunden, irgendwann. Weihnachten. Kennst du das Geheimnis dahinter?"
Ich verneine.
"Geschenke auspacken, essen, feiern, zur Messe gehen. Satt und zufrieden mit sich und der Welt müssen sie sein, dass keiner mehr an uns denkt. Geblendet werden sie von dem goldenen Schein. Und dann kommt es angekrochen." Er kauert sich in einer Ecke zusammen. "Niemand wird mehr wissen, dass es uns gegeben hat. Niemand wird mehr unsere Namen rufen. Das Monstrum verschleppt nicht nur. Es löscht aus."
Ich möchte ihm mein Anliegen nochmals erklären, doch er lässt sich nicht beruhigen.
"Es gibt keine Monster. Nur dich und mich gibt es hier. Und ich kann dir helfen. Kann es besser machen. Für dich."
"Du wirst es eines Tages auch fühlen." Ein unangenehm drohender Unterton liegt in seiner Stimme. "Du fühlst es jetzt schon. Weil du einsam bist."
Ich packe ihn an den Schultern. "Es gibt keine Ungeheuer. Begreif das doch! "
Er stößt mich zurück, will sich aus meinem Griff befreien.
"Das ist nur deine Fantasie. Eine Traumwelt."
Ich fühle, wie er sich in meinen Händen windet, als wäre er ein Fisch, den ich aus dem blauen Ozean gerissen habe. Jetzt will ich es wagen, will ihn Luft atmen lassen, gesund machen.
Mit aller Kraft stemmt er sich gegen mich, versucht zu entkommen, doch ich halte ihn.
"Ich habe Zukunft für dich. So viel du möchtest."
Er tritt nach mir.
"Dann brauchst du keine Fantasiegespinste mehr."
"Das sind Engel", schreit er mich an. "Meine Engel."
"Das ist Einbildung."
"Nein", kreischt er. "Sie existieren! Alles existiert!"
Mit beiden Händen hält er sich die Ohren zu.
In mir steigt Zorn auf. So viel Gegenwehr habe ich nicht erwartet.
Weinend liegt er vor mir, windet sich im Staub. Er lässt nicht ab von seinen Engeln. Seinem Leben. Das ärgert mich. Alles habe ich. Und er will es nicht.
Ungeheure Wut ergreift mich. Ich möchte ihn stoßen, schlagen, wehtun will ich ihm, weil er so wehrlos ist und ich nicht siegen kann.
"Du Idiot", brülle ich. "Ich bin deine letzte Chance!"
Für einen Moment ist es still. Einzelne Regentropfen klopfen gegen das Dach. Unser beider Atem geht schwer.
Dann richtet er sich auf, blickt mich mit wachen Augen an. "Du bist es", sagt er langsam, mit klarer Stimme. "Du bist das Monstrum."
Er weicht zurück.
"Ich kann den Hunger in deinen Augen sehen."
So rasch ihn seine dürren Glieder tragen krabbelt er zum Ausgang, stolpert, rutscht, wuchtet seinen Körper ins Freie.
"Warte!"
Für Sekunden höre ich seine Schritte auf dem nassen Asphalt, dann bin ich alleine.
"Bleib hier", rufe ich ihm halblaut hinterher. "Ich brauche dich doch."
Ich sitze in einer großen Pappschachtel, umgeben von Abfall und Einsamkeit.
Der Weihnachtsmorgen bricht an.