Heinz saß, wie jeden Nachmittag, am Fenster und schaute hinunter auf die Straße. Es war Dezember. Die Straße war verschneit und wirkte dadurch wie eine Märchenlandschaft. Besonders schön fand er die Kastanien, die auf dem breiten Mittelstreifen zwischen den Fahrbahnen standen. Sie sahen aus wie mit Puderzucker bestäubt.
Ein Paar, das sich lautstark stritt, kam vorbei. Mit seiner Frau hatte er Glück gehabt. Sie hatten selten Streit.
Er sah zu den Kastanien. Auf der Straße fuhr ein Krankenwagen mit Blaulicht vorbei. Wann würden sie ihn abholen?
Eine Frau mit einem Dackel lief vorbei. Sollte er sich auch einen Hund zulegen? Dann würde er wenigstens jeden Tag aus dem Haus gehen. Seit er vor drei Jahren Frührentner wurde, hatte er keine Lust mehr dazu. Seine Frau war vor vier Monaten gestorben. Was sollte er ganz allein draußen im Leben?
Sein Freund Georg kam den Gehweg entlang. Unter dem Fenster blieb er stehen und winkte zu Heinz hinauf.
"Mensch, Heinz, Dich habe ich eine Ewigkeit nicht mehr gesehen! Wo steckst Du denn die ganze Zeit? Wir vermissen Dich seit einem halben Jahr. Morgen Abend ist Weihnachts-Skatturnier im Skateck. Startgeld 10 Euro. Tolle Preise diesmal, nächste Woche ist ja Weihnachten. Und Tannenzweige, Kerzen, Glühwein, eben richtig gemütlich. Du kommst doch mit? Die anderen werden sich freuen, Dich mal wieder zu Gesicht zu kriegen!"
Heinz überlegte. Sollte er zusagen? Nach so langer Zeit hatte er doch den Anschluss verpasst. Seine Freunde waren ihm bestimmt fremd geworden, obwohl er sie seit Jahrzehnten kannte.
"Meine Güte, Heinz, nun zier Dich doch nicht so! Geh endlich mal wieder unter Leute. Sonst versauerst Du noch in Deiner Wohnung. Das ist doch kein Leben für Dich!"
"Was soll ich denn bei Euch? Ihr kennt mich doch kaum noch!"
"Heinz, wirklich, wir wundern uns alle, warum Du gar nicht mehr kommst. Wir können uns ja denken, dass es Dir momentan nicht so gut geht, aber wenn Du nur zu Hause sitzt, wird es auch nicht besser!"
"Na schön, weil Du es bist. Wann geht es denn los?"
"Super, Heinz! Es geht um sechs los. Ich hol Dich um halb sechs ab und wir gehen zusammen hin, ja? Bis morgen Abend dann. Ich freue mich!"
"Bis morgen, Georg!"
Georg strahlte ihn an und winkte noch einmal zum Abschied. Dann ging er weiter.
Allmählich dämmerte es. Auf der Straße war nicht mehr viel zu sehen. Er schloss das Fenster. Vielleicht würde er sich morgen Abend wohl fühlen, unter seinen Freunden, mit Kerzen, Glühwein und Weihnachtsstimmung? Er lächelte, zum ersten Mal seit Monaten.