All der Zorn und die Wut jener Jahre kochten wieder hoch, und ich
sagte mit feuchten Augen dem Fräulein Krömeier:
»Es tut mir aufrichtig leid. Ich werde – ich verspreche Ihnen: Ich
werde alles, alles daransetzen, dass es nie wieder ein englischer
Bomber auch nur wagt, in die Nähe unserer Grenzen und unserer
Städte zu kommen. Nichts soll vergessen sein, und eines Tages
werden wir jede Bombe tausendfach vergelten …«
»Bitte«, sagte Fräulein Krömeier stockend, »bitte hören Se mal
einen Moment auf. Nur einen Moment. Se wissen doch überhaupt
nicht, wovon Se reden.«
Das war freilich gewöhnungsbedürftig, noch immer. Es ist lange her,
dass der Führer einmal getadelt worden ist, auch noch zu Unrecht
getadelt worden ist, der Führer ist ja normalerweise zu weit oben in
der völkischen Hierarchie, als dass man ihn tadeln dürfte. Man soll
den Führer auch überhaupt nicht tadeln, sondern ihm vertrauen,
insofern ist eben jeder Tadel dem Vorgesetzten gegenüber
ungerechtfertigt und mir gegenüber ganz besonders, aber dennoch –
das Fräulein Krömeier schien mir ehrlich betrübt, und daher schluckte
ich eben diesen wohl im Zorne abgegebenen Kommentar einmal
hinunter, denn selbstverständlich war der Einwand völliger Blödsinn.
Gerade in dieser Beziehung weiß wohl kaum jemand besser, wovon er
redet, als ich.
Also schwieg ich für einen Moment.
»Wenn Sie den Tag frei haben möchten –«, setzte ich dann an, »ich
denke, die Situation ist schwierig für Sie. Ich wollte nur, dass Sie
wissen, dass ich Ihre Mitarbeit außerordentlich schätze. Und wenn
Ihre Frau Großmutter damit nicht zufrieden ist, vielleicht hilft es, wenn
Sie ihr mitteilen, dass ihr Zorn hier wohl den Falschen trifft. Der
Bombenkrieg war Churchills Idee …«
»Es trifft überhaupt nicht den Falschen, det is ja det Schlimme«,
schrie das Fräulein Krömeier. »Wer redet denn hier von irjend eenem
Bombenkrieg? Diese Menschen sind in keenem Bombenkrieg
gestorben. Man hat sie vergast!«
Ich hielt inne und blickte nochmals auf das Foto. Der Mann, die
Frau, die Buben sahen nicht kriminell aus, nicht wie Zigeuner, kein
bisschen wie Juden. Obwohl, in ihren Gesichtszügen, wenn man
wirklich ganz genau hinsah – nein, das konnte auch Einbildung sein.
»Wo ist denn Ihre Großmutter auf dem Bild?«, fragte ich, aber die
Antwort konnte ich mir sofort denken.
»Sie hat det Foto jemacht«, sagte Fräulein Krömeier mit einer
Stimme wie ganz rohes, unbehandeltes Holz. Sie sah reglos auf die
Bürowand gegenüber. »Et is det eenzije Bild ihrer Familie, det se noch
hat. Und da isse noch nich mal selber mit drauf.« Dann lief eine
wimperntuscheschwarze Träne über ihr Gesicht.
Ich hielt ihr ein Taschentuch hin. Sie reagierte erst nicht, dann nahm
sie es und schmierte sich damit viel Tusche durchs Gesicht.
»Vielleicht war es ein Irrtum?«, sagte ich. »Ich meine, diese Leute
sehen überhaupt nicht aus wie …«
»Wat is’n det für’n Arjument?«, fragte Fräulein Krömeier kalt. »Und
wenn se versehentlich umjebracht worden sind, is wohl allet im jrünen
Bereich oder wat? Nee, der Irrtum is, det eener überhaupt auf die
Idee jekommen is, man müsste die Juden umbringen! Und die
Zigeuner! Und die Schwulen! Und alle, die ihm nicht in den Kram
passen. Ick will Ihnen mal wat verraten: Der Trick geht so – wenn man
die Leute nicht alle umbringt, dann bringt man die Falschen ooch nich
um! So einfach ist det!«
Ich stand etwas ratlos im Raume, ich war von diesem Ausbruch
reichlich überrascht, selbst wenn man auf die erheblich weichere
Gefühlswelt einer Frau gefasst ist.