Sie machte eine kurze Pause und sah mich eindringlich an: »Det
hätten Se sehen müssen, wie sie det Foto rausjezogen hat. Als wär
det ’ne Million Euro wert. Als wär det det letzte Foto der Welt. Ick hab
mir ’ne Kopie jemacht. Ick hab eine halbe Stunde auf se einreden
müssen, bevor sie det Bild zum Kopieren aus der Hand jejeben hat.«
Sie bückte sich wieder und holte aus ihrem Rucksack eine Fotokopie
hervor, die sie mir hinschob. Ich besah mir das Bild. Auf dem Foto
waren ein Mann, eine Frau und zwei Buben im Grünen abgebildet, sie
mochten sich an einem See befinden, jedenfalls lagen sie auf einer
Decke oder einem großen Strandtuche. Man konnte davon ausgehen,
dass es sich wohl um eine Familie handelte. Der Mann in der
Badehose war vielleicht etwas über dreißig Jahre alt, dunkle kurze
Haare, er schien sportlich, die blonde Frau sah durchaus attraktiv aus.
Die Buben hatten Papierhüte auf, wohl aus einer Tageszeitung
gefertigt, und sie hatten Holzschwerter in der Hand, mit denen sie
lachend posierten. Und das mit dem See war richtig vermutet, jemand
hatte mit einem dunklen Stift unten auf das Bild »Wannsee, Sommer
1943« geschrieben. Insgesamt schien es sich um eine tadellose
Familie zu handeln.
»Was ist damit?«, fragte ich.
»Det is die Familie meiner Oma. Ihr Papa, ihre Mama, ihre beiden
Brüder.«
Ich habe nicht sechs Jahre lang Krieg geführt, ohne die Tragödien
zu ahnen, die derlei auslöst. Die Wunden, die der Tod zur Unzeit in
den Seelen reißt. »Wer ist gestorben?«, fragte ich.
»Alle. Sechs Wochen später.«
Ich blickte auf den Mann, die Frau, auf die beiden Buben, besonders
auf die beiden Buben, und ich musste mich räuspern. Man kann vom
Führer des Deutschen Reiches unerbittliche Härte gegenüber sich
selbst verlangen und auch gegenüber seinem Volk, und ich bin noch
immer der Erste, der diese Ansprüche an sich richtet. Auch hätte ich
mich hier sicherlich unbeugsam und eisern gezeigt, wenn es sich um
eine Aufnahme jüngeren Datums gehandelt hätte, sagen wir, um einen
Soldaten jener neuen Wehrmacht, selbst wenn er im Zuge dieser
unsäglichen afghanischen Maßnahme der Unfähigkeit der Politik
geopfert worden war. Doch diese Aufnahme, die so sichtbar aus jener
Zeit stammt, die mir noch immer nahe war, dieses Bild, es rührte an
mein Herz.
Man kann mir sicher nicht vorwerfen, dass ich an den Fronten im
Westen und Osten nicht jederzeit und ohne zu zögern bereit gewesen
wäre, Hunderttausende zu opfern, um Millionen zu retten. Männer in
den Tod zu schicken, die zur Waffe gegriffen hatten, im Vertrauen
darauf, dass ich ihr Leben zum Wohle des Deutschen Volkes
einsetzen und im Falle des Falles auch hingeben würde. Und vielleicht
hatte sogar dieser Mann dazugehört, es war gut möglich, dass er sich
gerade im Fronturlaub befunden hatte. Aber die Frau. Die Buben. Ja,
überhaupt die Zivilbevölkerung … Mich würgte noch immer diese
Ohnmacht, dass ich das Volk zu Hause nicht hatte besser schützen
können. Dass dieser Säufer Churchill sich nicht geschämt hatte, die
Unschuldigsten der Unschuldigen im Feuersturme elendiglich
verglühen zu lassen als lebende Fackeln seines alles verzehrenden
Hasses.