Langsam ging die Fahrt nun wieder bergan, aber die jungen Leute wurden jetzt ungeduldig. Das einförmige Schrittfahren langweilte sie; sie sehnten sich, den Bestimmungsort zu erreichen. Endlich verengte sich die Fahrstraße und einige große Holzgebäude wurden sichtbar. Das waren die Stallungen der Wirtschaft, die ungefähr noch eine Viertelstunde entfernt lag. Hier hatte das Fahren ein Ende, es wurde ausgespannt und die Gesellschaft machte sich zu Fuß auf den Weg.
In der Ferne hörte man schon das Rauschen des Wasserfalls, der das Wirtshaus und seine Lage berühmt gemacht hatte. Bald wurde der Pfad so schmal, daß nur einer hinter dem andern hergehen konnte. Der Professor erbot sich, den Zug anzuführen, er kannte den Weg und sagte, er sei gefährlich. Nun wollte Tante Elisabeth zurückbleiben, sie sei zum Vergnügen mitgekommen und hielte es für eine Sünde, sich Gefahren auszusetzen.
„Unsinn,“ erklärte Frau Gontrau, „onkel Heinz will uns nur necken; gehen Sie hinter mir her, Elisabeth, und seien Sie nicht bange, es ist nicht schwierig.“
Ängstlich, mit kleinen, vorsichtigen Schrittchen folgte die Tante; sie hielt sich zu Karls unaussprechlichem Gaudium an Ilses Kleid fest, was der Junge gleich nachmachte, indem er die Tante bei den Röcken packte. Dies Beispiel wirkte ansteckend; die jungen Leute faßten einander am Rock oder Kleid, und so ging es im Gänsemarsch in Schlangenwindungen vorwärts. Immer schmäler wurde der Pfad; er führte durch eine tiefe Schlucht. Rechts und links erhoben sich hohe Felswände, von Tannen, Fichten und Buchen gekrönt und mit Moos und Ginsterbüschen über und über bedeckt.
„Wie unheimlich,“ meinte Fräulein Müller. „Karl, laß mich los; du zerreißt mir mein Kleid. So laß doch los.“
„Wenn wir fallen, liegst du zu unterst, Tante,“ schrie ihr Plagegeist mit lauter Stimme, um das Rauschen des Wasserfalls zu übertönen, das immer gewaltiger klang und bald in ein ohrenbetäubendes Brausen überging.
Plötzlich ward der Weg breiter, der Professor bog um eine Ecke und blieb auf einem großen Felsblock stehen. Die lebende Guirlande verteilte sich und drängte sich auf dem engen Raume zusammen. Die jungen Leute lachten, die Mädchen kicherten, Fräulein Müller stand Todesängste aus, daß sie herunterstürzen könnte, obschon der ganze Aussichtspunkt mit einem Geländer von rohen Baumstämmen umgeben war. Karl und Irma drängten sie immer mehr nach vorne; Elisabeths entrüstete Ausrufe übertönte das donnerähnliche Brausen des Wasserfalls.
Endlich hatte jeder einen bequemen Platz und Stützpunkt gefunden und gab sich mit Andacht dem großartigen Naturschauspiel hin. In gewaltigen Massen stürzte das Wasser in die Tiefe, zum Teil über einen steilen Abhang strömend und sich bei jeder vorstehenden Felsspitze in tausend Strahlen verteilend, die zusammen einen unsagbar schönen Fächer von Silberschaum bildeten.
Atemlos standen alle und staunten und konnten sich von dem Anblick des prächtigen Falles nicht trennen, bis onkel Heinz endlich mit Stentorstimme ein „Vorwärts!“ kommandierte und vorsichtig eine in den Felsen gehauene Treppe hinabstieg, die direkt zu dem freundlichen Wirtshaus führte. Es lag mitten im Walde, von hohen Fichtenstämmen umgeben, aus denen in geringer Entfernung die malerischen Türme der alten Abtei hervorragten.
Im Garten des Wirtshauses herrschte reges Treiben. Es war noch in der Ferienzeit; eine Menge Fremder sowie Bewohner der umliegenden Ortschaften hatte gleichfalls das schöne Wetter herausgelockt, um dem Wasserfall und der Abtei einen Besuch abzustatten. Viele Studenten mit farbigen Mützen und weißen Beinkleidern bildeten fröhliche Gruppen.
Alle Stühle waren besetzt, und die Gäste, die weder an den Tischen noch auf den Bänken Platz gefunden, wanderten unruhig auf und ab. Etwas verstimmt schaute sich unsre Gesellschaft um; es war nicht verlockend, bei diesem herrlichen Wetter drinnen im Saale zu speisen, aber es schien nichts andres übrig zu bleiben. Mittlerweile hatten die jungen Mädchen Aufmerksamkeit erregt; Irma und Agnes standen in der Nähe einer Gruppe von Studenten, die sich mit den Augen zuwinkten und einander anstießen. Plötzlich erhob sich einer von ihnen, nahm die kleine Cerevismütze von dem pechschwarzen Kraushaar, näherte sich dem Professor und fragte höflich:
„Ich habe doch die Ehre, Herrn Professor Fuchs zu sprechen?“
Der alte Herr schaute ihn durchdringend an.
„Ich glaube, ich kenne Sie, junger Mann, kann Sie aber nicht unterbringen.“
„Von Hochstein,“ stellte sich der Student vor, indem er dem ganzen Kreise seine Verbeugung machte. „Ich gehöre noch zu Ihren ehemaligen Schülern, Herr Professor. Darf ich Ihnen und Ihrer Gesellschaft unsern Platz anbieten? Wir sind fertig, unsre Tafel kann schnell abgeräumt werden.“
Mit einer höflichen Verbeugung auf die Dankesbezeugungen der Gesellschaft antwortend, rief er einige Kellner und erteilte ihnen seine Befehle. Sie waren so dienstbeflissen, als ob er eine bekannte und einflußreiche Persönlichkeit wäre.