„Bravo,“ jubelte Ludwig, und unter allgemeinem Scherzen erkletterten die jungen Leute den vordersten Wagen. Professor Fuchs wurde in die Mitte genommen. Ruth und Marianne mit ihren Männern kamen natürlich zu Großmama und Tante Elisabeth. Auch Gustav zog es vor, bei den älteren Leuten zu sitzen; die lebhafte jugendliche Schar war ihm zu lärmend, und Floras Herz klopfte vor Freude, als er ihr erklärte, neben ihm sei noch ein Plätzchen für sie frei.
So rasch wie möglich ging es zur Stadt hinaus, um Aufsehen zu vermeiden. Dann mäßigte die Steigung der bergan führenden Chaussee die Schnelligkeit der Fahrt. Wurde der Weg zu steil, so stiegen die Kutscher ab und schritten, die Zügel in der Hand, neben den Wagen her. Manchmal gingen auch die Herren ein Stück Wegs zu Fuß, und dann blieben die Damen mit onkel Heinz, dem das ewige Aus- und Einsteigen zu mühsam war, sitzen. Zu beiden Seiten der Straße dehnten sich dichte, endlose Wälder; als etwa die Hälfte des Weges zurückgelegt war, ersuchte der Kutscher des vordersten Wagens, ein dicker gemütlicher Schwätzer, die ganze Gesellschaft auszusteigen, um die weit und breit berühmte Aussicht zu bewundern.
„Ich rühre mich nicht vom Fleck,“ erklärte Fräulein Müller. Die Übrigen folgten gern der Aufforderung und meinten, es täte nach dem langen Sitzen gut, sich mal die Beine zu vertreten. „Was habt ihr denn von so 'ner Aussicht; es ist doch immer dasselbe, und eine ist genau so wie die andre,“ murrte das alte Fräulein.
Selbst Großmutter Ilse zuckte ungeduldig die Achseln, als sie sich am Arm ihres ältesten Schwiegersohnes auf den Felsvorsprung begab, um die herrliche Aussicht zu bewundern.
Tief unten lag, wie ein ovaler Silberspiegel, ein kleiner See inmitten eines fruchtbaren Tales. Ab und zu ertönten die Glocken der Herden wie eine wohllautende, aus weiter Ferne herüberklingende Musik, und auf den umliegenden Bergen grasten friedlich schwarz- und weißgefleckte und rotscheckige Kühe. Soweit das Auge reichte, waren die Felsen mit Schlingpflanzen und Farnen wie mit Mänteln überhangen, zwischen denen schneeweiße und goldgelbe Blütendolden hervorschimmerten. Wunderbar strahlte die Sonne vom wolkenlosen Himmel herab und tauchte die reiche, üppige Landschaft in glühende Farben.
Die ausgelassene Heiterkeit verstummte, selbst laute Bewunderung hätte störend gewirkt. Ärgerlich schaute Gustav Irma an, als sie Hans scherzend fragte, ob er einen senkrecht steilen Felsen in ihrer Nähe erklettern und ihr die blauen und weißen Blumen pflücken wolle, die sich um die Spitze schlangen.
„Seien Sie praktisch und stellen Sie erst im voraus Ihre Bedingungen, was Sie dafür haben wollen,“ rief Maud lachend, während Hans mit zweifelnder Miene hinaufschaute und dann eingestand, daß ihm seine gesunden Gliedmaßen doch zu lieb seien, um sie bei einem solchen Wagestück aufs Spiel zu setzen.
Dadurch war der Zauber gebrochen. Ruth von Holten wischte sich eine Träne aus den Augen und tippte ihrem Manne auf die Schulter, der träumerisch in die Ferne blickte und wie aus tiefem Sinnen auffuhr, als er sah, daß die andern sich wieder nach den Wagen begaben.
Tante Elisabeth hatte sich unterdessen damit die Zeit vertrieben, daß sie in dem unter dem Sitze stehenden Korbe herumschnüffelte, einen Sack mit glasierten Früchten herausholte und sich daran labte. Als der kleine Karl, der vorausgelaufen war, wie eine Katze über die Bänke des Wagens sprang, schrie er laut:
„Schnell, Großmama, Tante Elisabeth nascht aus deinem Korbe!“
Fräulein Müller erschrak so heftig, daß sie den Sack fallen ließ; die leckeren Früchte würden sicher auf den Boden gerollt sein, wenn Agnes nicht herbeigeeilt wäre und das Unglück noch rechtzeitig verhütet hätte.
Tantes dürre Finger krümmten sich, und da Karls Haupt sich gerade in ihrem Bereich befand, griff sie in seine Locken und schüttelte ihn tüchtig hin und her.
„Laß mich los,“ rief der Junge, alle Höflichkeit vergessend. „Bist du verrückt geworden, Tante? Ich hab' nicht genascht, sondern du!“
Die ganze Gesellschaft war jetzt herangekommen. Karl befreite sich mit einem Ruck und wollte mit feuerrotem Gesicht und einem drohend nach der alten Dame ausgestreckten Finger verkündigen, was sich zugetragen hatte, als Großmutter Ilse ihm zuvorkam. Mit einem einzigen Blick begriff sie alles und sagte ruhig:
„Das ist auch wahr. Tante Elisabeth erinnert mich daran, daß ich noch eine kleine Erfrischung für unterwegs mitgenommen habe. Reiche sie herum, Agnes.“