Charles Dickens wuchs auf mit einer Amme, die Geisterschichten liebte und einer Mutter, die schrecklich geizig war. An beide erinnert seine berühmte Weihnachtsgeschichte, die am 19. Dezember 1843 herausgekommen ist.
"Das ist ja das reinste Ammenmärchen!" sagt man heute, wenn man eine erfundene Geschichte als besonders harmlos empfindet. Doch es gibt auch Ammenmärchen, die einem die Haare zu Berge stehen lassen. Mary Weller zum Beispiel, die Amme der Familie Dickens, erzählte solche haarsträubenden Märchen am laufenden Band. Vielleicht lag es daran, dass Mary die Tochter einer Hebamme und eines Totengräbers war. Von beiden Eltern hatte sie genug Schauergeschichten gehört, um ein abendfüllendes Programm bestreiten zu können.
Schauermärchen für den kleinen Charles Dickens
Doch Mary besaß auch selbst genug Phantasie. Ihre Lieblingsfigur war ein wahnsinniger Seefahrer namens "Captain Murder", den sie selbst erfunden hatte. Der Kapitän ermordete alle seine Ehefrauen, zerstückelte sie und machte Pastete aus ihnen. Sein Schiff war bevölkert mit unverwundbaren, nicht ertränkbaren Ratten - eine staunenswerte Phantasie des Makabren.
"Bevor sie zu erzählen begann", so erinnerte sich später Charles Dickens, "krallte sie beide Hände in die Luft und gab ein hohles Stöhnen von sich.
Bei dieser Grabesouvertüre standen mir schon die Haare zu Berge, und viele ihrer Gestalten wurden zu nie vergessenen Gespenstern, nachdem sie einmal den Eingang in die dunklen Winkel des kindlichem Gemüts gefunden hatten." Mary Weller, das steht fest, hat Charles Dickens als erste das Fürchten gelehrt und die Schattenwelt jenseits des geordneten viktorianischen Haushalts gezeigt.
Geordnet schien er jedenfalls die ersten zwölf Jahre zu sein, wenn auch die Familie in immer kleinere und bescheidenere Wohnungen ziehen musste. Vater John Dickens war Zahlmeister der britischen Marine, aber das Dasein eines kleinen Angestellten gefiel ihm nicht. Er wollte etwas Besseres sein, und seine Frau Elizabeth besaß denselben Drang zum Luxus. Beide führten ein Leben, das ihre Mittel weit überstieg.
Eines Tages wurde der Vater ins Schuldgefängnis abgeführt, das Kind musste die Schule verlassen und in einer Fabrik für Schuhcreme arbeiten. Zwölf Stunden täglich klebte Charles Dickens Etiketten auf die Töpfe.
Mutter Dickens - Vorbild für den großen Geizhals
Als der Vater John Dickens aus der Schuldhaft entlassen wurde, sah er seinen kleinen Sohn durchs Fenster im Souterrain der Fabrik Akkordarbeit leisten, und sein Gewissen regte sich. Er wollte ihn freikaufen, aber die Mutter sah gar nicht ein, warum er nicht weiter dort bleiben sollte. Die 20 Schillinge pro Woche seien doch sehr angenehm!
Nie hat Dickens diesen Verrat seiner Mutter vergessen. Und ein wenig von ihrer Härte und ihrem Geiz steckt auch in der Figur des alten Geizhalses Ebenezer Scrooge, dessen Herz taub ist für menschliches Elend. Erst als ihm drei Geister erscheinen, der Geist der vergangenen Weihnacht, der Geist der gegenwärtigen und der Geist der zukünftigen Weihnacht, und ihm zeigen, was andere Menschen von ihm denken und wie einsam er sterben wird, da öffnet sich sein Herz und er beginnt Mitleid zu fühlen.