Das Leben hat es lange nicht gut gemeint mit Karl May, dem späteren Autor der Geschichten um Winnetou und Old Shatterhand. Kurz vor seinem Tod hielt er am 22. März 1912 den Vortrag "Empor ins Reich der Edelmenschen".
"Uff, uff!" raunen die "tapferen Kiowas"voll Bewunderung, als ihnen der witzige Sam Hawkens seinen Freund vorstellt: Mit Büffelbullen und Grizzlybären könne der es aufnehmen. "eine Kugel verfehlt niemals ihr Ziel" schwärmt Hawkens, "und in seiner Hand wohnt so viel Kraft, dass er jeden Feind mit einem einzigen Hieb seiner Faust zu Boden schmettert. Darum haben ihm die weißen Männer des Westens den Namen Old Shatterhand gegeben."
Ach, wie gern wäre er so ein strahlender Held gewesen, der sächsische Romanschreiber Karl May, der auf stolzen Fotos phantastisch kostümiert als Old Shatterhand und Kara ben Nemsi posierte und mit seinem traurig herabhängenden Seehundbart und der mickrigen Nickelbrille doch eher wie ein biederer Schullehrer aussah. Der angebliche Globetrotter, der seine erste Amerikafahrt mit 66 Jahren machte. All die Kämpfe mit listigen Indianern und weißen Schuften hatte er bloß erfunden.
Zögling mit "infernalischem Charakter"
Wer freilich die Kindheitsgeschichte des 1842 im Erzgebirge als Sohn eines kleinen Handwebers geborenen Träumers kennt, wird ihm die Aufschneiderei gern verzeihen. Karlchen war die ersten Jahre blind. Der meist besoffene Vater meinte seiner Erziehungspflicht Genüge zu tun, wenn er seine Kinder regelmäßig verprügelte. Volksschullehrer sollte das aufgeweckte Knäblein werden. Im Lehrerseminar hatte Karl die unglückselige Idee, sechs Wachskerzen zu klauen, damit die bettelarme Familie zu Hause auch mal ein strahlendes Weihnachten feiern konnte. Die Anstaltsleitung verwies den Zögling wegen seines - Zitat - "infernalischen Charakters" aus dem Seminar. Mit Mühe fand er trotzdem in einer Armenschule eine miserabel bezahlte Anstellung.
Und landete mehrfach im Gefängnis, weil er sich bei Schneidermeistern und Pelzhändlern unter falschem Namen vornehm einkleiden ließ und zu bezahlen vergaß, weil er sich als Arzt oder Kupferstecher ausgab, weil er ein Handtuch gestohlen hatte und ein Pferd. Ein Zeitungsverleger namens Münchmeyer heuerte ihn als Redakteur für das "Deutsche Familienblatt" an und ließ ihn für ein schandbar niedriges Gehalt schuften, mit einem Vorbestraften konnte man alles machen.
Doch Karl May hatte endlich Halt gefunden und eine Lebensaufgabe. Wie ein Besessener schrieb er Wildwestgeschichten und Abenteuerromane mit exotischen Schauplätzen in Wüste und Prärie! "Phantastisch und hanebüchen" nannte sie der Dichterkollege Hermann Hesse nicht ohne Neid, "frisch und naiv, von einer gesunden, prächtigen Struktur". In der Tat, was die spannende Handlungsführung betraf, die treffsicheren Bilder und Dialoge, erwies sich Karl May als Naturtalent.
"Empor ins Reich der Edelmenschen"
Die Wächter der Schriftkultur nahmen ihn allerdings nie so richtig ernst - obwohl sich hinter den trivialen Geschichten eine humane Botschaft von zeitloser Qualität versteckt. Mays Sympathie gehörte den unterdrückten Kurden, seine Indianerromane entlarven den selbstgerechten Erobererwahn der weißen Landräuber und ergreifen Partei für Würde und Rechte der vermeintlichen Wilden. Als ihn der Wiener Akademische Verband für Literatur und Musik am 22. März 1912 nach Wien zu einem Vortrag einlud, unter dem Titel "Empor ins Reich der Edelmenschen", wurde der siebzigjährige Karl May für seine Vision einer Rassenverbrüderung und eine Verschmelzung indianischer und europäischer Werte bejubelt.
Endlich war er in der Gesellschaft der feinen, gebildeten Leute angekommen - und konnte zufrieden sterben, exakt eine Woche später, im sächsischen Radebeul, in seiner "Villa Shatterhand".