Eine Novelle, realistisch und doch eine Parabel, "das feinste einzelne Ding, das er je ausdrückte", meinte die Kritik über Hemingways "Der alte Mann und das Meer“. Autorin: Brigitte Kohn
Das Glück ist unberechenbar, man hat es oder man hat es nicht. Der kubanische Fischer Santiago, Hauptperson in Ernest Hemingways Erzählung "Der alte Mann und das Meer", hat es nicht. Wochenlang beißt kein Fisch bei ihm an. Als ihm nach langer Durststrecke plötzlich doch der Fang seines Lebens gelingt, wird es erst mal richtig gefährlich: Der riesige Speerfisch schleppt Fischer und Boot an der Fangleine meilenweit aufs offene Meer hinaus. Es dauert Tage, bis es Santiago gelingt, den Fisch zu töten; Tage am Rande des Abgrunds.
Nobel-Fisch
"Der alte Mann und das Meer", erschienen am 4. September 1952, verkaufte sich millionenfach, quer durch alle Schichten der Bevölkerung. In den Fernfahrerkneipen vergaßen die Kellnerinnen das Servieren und lasen die Geschichte vor, und die Trucker schalteten den Musikautomaten ab, um alles mitzubekommen.
Die Geschichte ist spannend, und sie geht nach dem Tod des Fisches noch weiter. Der Kadaver erweist sich als zu groß, um ihn ins Boot zu hieven; Haie fallen ihn an und vertilgen ihn. Santiago bringt nur ein riesiges Skelett nach Hause. Pech gehabt, wieder einmal? Nein, so darf man das nicht sehen. Der Fischer ist seiner Berufung gefolgt. Er hat mannhaft gekämpft und so vielen Haien wie möglich den Schädel eingeschlagen; dafür gebührt ihm alle Ehre.
Ernest Hemingway war nicht nur der berühmteste amerikanische Autor jener Tage, sondern selbst ein passionierter Jäger und Fischer, der wusste, wovon er redete. Die Erzählung brachte ihm nach einer jahrelangen literarischen Durststrecke den Pulitzer-Preis ein und ein Jahr später sogar den Nobelpreis.
Sinn im Sinnlosen
"Der alte Mann und das Meer" traf den Nerv der Zeit. Nach zwei Weltkriegen schien alles im Leben absurd und bodenlos brüchig zu sein. Man suchte nach dem Sinn im Sinnlosen und hungerte nach klaren Leitbildern. Hemingway bediente diese Sehnsucht, indem er über richtige Kerle schrieb und sich auch selbst das Image eines solchen zulegte. Die Presse kaufte ihm seine Jagderfolge, Kriegserlebnisse und Saufgelage dankbar ab.
Doch hinter dieser Fassade verbarg sich ein sensibler Künstler, dessen Seele dem Meer geähnelt haben mag, das er beschrieb: voller Untiefen und Ungeheuer, die er niederknüppeln musste. Im Juli 1961 richtete er in tiefer Verzweiflung sein Jagdgewehr gegen sich selbst und schoss sich eine Kugel in den Kopf. Er war sofort tot.