Eine Taube saß hoch oben auf dem kleinsten Ast des mächtigsten Baumes eines Parks. Sie schaute vergnügt den vielen Menschen zu, die, um sich von ihrem stressigen Leben zu erholen, an diesem schönen Sonntag ziellos durch den Park schlenderten. Jeden einzelnen, den sie erblickte, gurrte sie liebevoll an, so als wollte sie sagen: "Mensch, nimm es locker. Siehst du nicht, dass dein Leben nur ein kleines, unbedeutendes Rädchen im großen Ganzen ist? Wenn du alles aus meiner Position sehen könntest, dann würdest du es genau so sehen wie ich. Also, Mensch. Weshalb sich so viele Sorgen machen? Nimm es doch wenigstens für heute ein wenig lockerer."
Als die Taube sich ein wenig umsah, erblickte sie einen alten Rentner. Sie hatte ihn schon so oft gesehen. Immer machte er, wenn er an ihr vorbei kam, das gleiche Gesicht. Die Taube war sehr geübt darin, in den Gesichtern der Menschen deren Emotionen zu erraten. Was sie bei diesem Rentner stets wahrzunehmen vermochte, war tiefste, undurchdringlichste Einsamkeit.
Für solche schweren Fälle hatte die Taube einen ganz bestimmten Gurrlaut in ihrem Repertoire. Er ging in etwa so: "Grrurrruhhrrrhhhuuuuuu!"
Stets wirkte dieser ganz spezielle Gurrlaut wie ein letzter Aufschrei eines Ertrinkenden, der es noch einmal, und gleichzeitig auch zum letzten Mal in seinem irdischen Leben, an die Oberfläche des Gewässers, das seine letzte Ruhestätte werden sollte, geschafft hatte, bevor er dann für immer in den tiefsten untiefen versank. Die Menschen sahen sich dann immer, sobald sie diesen entsetzlichen Laut vernahmen, völlig entsetzt um, und suchten, mit Panik in den Augen, nach einem nahe gelegenen See, um notfalls einem ertrinkenden Menschen Hilfe zu leisten. Da die Meisten von ihnen schon seit Jahren in diesen Park gingen und deshalb wussten, dass weit und breit kein See zu finden war, aber dennoch verzweifelt nach einem suchten, waren nicht wenige unter ihnen, die nach solch einem Erlebnis ihren Seelendoktor aufsuchten. Da sich diese Vorfälle häuften, nannte man dieses Ereignis in manchen Boulevardblättern schon das "Hydepark-Syndrom", wobei dieser Begriff nach weiteren ungeklärten, ähnlichen Fällen schließlich sogar in verschiedenen psychiatrischen Wörterbüchern auftauchte.
Von all dem ahnte die Taube auf ihrem Baum natürlich nichts. Sie saß nur da, und kommentierte die Dinge, die um sie geschahen, auf ihre ganz eigene Art und Weise. Sie war selbst unter den Tauben ein Sonderling. Schließlich war sie die Einzige, zumindest ihr selbst bekannte, Taube, die zu derartig verstörenden Lauten fähig war. Von einer in Südbayern lebenden Taube, die ähnlich exzentrisch war wie unsere schon wohl bekannte Vertreterin dieser Tiergattung, wusste sie natürlich nichts. So konnte die andere Taube zum Beispiel einen Affen nachmachen und hatte so schon den ein oder anderen Bayer mit ihrer doch ziemlich selten vorkommenden Fähigkeit in die Irrenanstalt gebracht. Da es aber unter den Tauben bis heute kein Internet mit einem Forum für Tauben mit seltsamen Fähigkeiten gab, lebten beide in seliger Unwissenheit voneinander getrennt ihr tierisch ziemlich exzentrisches Leben aus, und verwirrten mit ihren zweifelhaften Begabungen tag ein tag aus die Menschen in ihrer unmittelbaren Umgebung.
Der Rentner, dem dieser seltsame Laut gegolten hatte, wusste schon längst um die Taube, welche, wann immer er dieses Weges ging, dieses Gurren, das sich von allen anderen Gurren, die der Rentner je in seinem doch schon für einen Menschen recht langen Leben vernommen hatte, eindeutig unterschied. Vielleicht war es sein Alter und die damit verbundene Gelassenheit und Unbekümmertheit im Zusammenhang mit festgefahrenen Vorstellungen der Beschaffenheit der Realität. Was es auch immer war. Der Rentner verstand das Ansinnen der Taube. Vielleicht war es weniger bewusst, als vielmehr intuitiv. Aber er wusste auf einer sehr, sehr tiefen Ebene seines Verstandes, dass die Taube mit ihrem Ruf seiner Einsamkeit entgegen wirken wollte. Und genau das gelang ihr auch. Schon ganz alleine das Wissen darum, dass irgendjemand oder auch nur irgendetwas genau an dieser Stelle auf ihn wartete, durchbrach dieses Gefühl der inneren Leere, welche jede Form der Einsamkeit in einem Menschen zu verursachen vermochte.
Als die Taube sah, dass, sei es auch nur für einen ganz kurzen Augenblick, ein ganz zaghaftes Lächeln auf den Lippen des alten Mannes beim Vernehmen ihres Schreis erschienen war, schwang sie zufrieden ihre Flügel, und erhob sich in die Lüfte.
Während des Fluges dachte sie über ihr erst vor kurzem neu entdecktes Talent nach. Was könnte sie wohl damit anfangen? Sie konnte seit neustem rückwärts gehen so dass es aussah, als würde sie rückwärts schweben. Natürlich wusste sie nicht, dass dieses Kunststück schon längstens in der Kultur des Menschen angekommen war. Sie hatte auch keinen blassen Schimmer davon, dass diese Fähigkeit schon seit zwei Generationen in ihrer Familie lag und dass vor langer Zeit einmal ein junger Musiker, den sie in der menschlichen Sprache Michael Jackson nannten, einmal mit seiner Familie ganz in der Nähe Urlaub gemacht hatte. Und genau dieser junge Musiker hatte dem Verwandten unserer Taube dabei zugesehen, wie sie genau dieses Kunststück gemacht hatte, was unsere Taube nun ganz neu an sich entdeckt hatte.
Allerdings hatte unsere Taube dieses Kunststück noch ein wenig erweitert. Und zwar dahingehend, dass sie nach ein paar Metern "Schwebens" einen kleinen Salto in der Luft vollführte und am Ende mit den Beinchen wild zappelnd auf dem Rücken zum Liegen kam.
Die Taube flatterte in Richtung einer Parkbank, auf der eine Mutter mit ihrem acht Jahre alten Sohn und einem Kinderwagen saß. Das Baby im Kinderwagen heulte laut vor sich hin, und die Mutter versuchte verzweifelt es zu beruhigen.
Der acht Jahre alte Sohn saß gelangweilt daneben.
Die Taube hatte eine Idee. Wie ein ganz normaler Vertreter ihrer Art landete sie direkt vor der Bank, und forderte die darauf sitzenden drängend und gurrend nach etwas Essbarem auf.
Der gelangweilte Junge war sehr erfreut über diese Abwechslung, und sah der Taube vergnügt zu.
Des Jungen Aufmerksamkeit nun sicher, vollführte die Taube ihre Kunststückchen. Sie machte direkt vor dem Jungen den Moonwalk. Auf und ab. Auf und ab. Dann vollführte sie ihren Salto, kam auf dem Rücken zum liegen, strampelte mit ihren Beinchen, rollte sich auf den Bauch, sah dem Jungen direkt ins Gesicht und grinsten. Na ja, es war vielmehr ein Versuch eines Grinsens, aber es kam dem doch schon erschreckend nahe.
Der Junge saß völlig perplex mit offenem Munde da, und hatte die Augen so weit aufgerissen, dass es so aussah, als würden sie jeden Augenblick platzen.
Von allen guten Geistern verlassen zerrte er an dem Mantel seiner Mutter und versuchte ihr diese unglaubliche Taube zu zeigen.
Die Taube war während dessen immer noch in ihrem letzen Zustand wie eingefroren und grinste weiter unentwegt den Jungen unheimlich an.
Dieser zerrte noch wilder als zuvor an dem Mantel seiner Mutter und stammelte etwas unverständlich: "Mama, sieh mal, eine…eine…ich weiß nicht…eine…eine völlig verrückte Taube".
Kaum sah seine Mutter in die Richtung der Taube, verwandelte sich ihr Verhalten von der einer verrückten Taube sofort in das einer völlig normalen und vor allem: Langweiligen Taube und sie gurrte wieder drängend nach etwas zu Essen, und pickte nebenher alles in ihrer Reichweite liegende in der Hoffnung auf, es sei vielleicht in irgend einer Weise genießbar.
Die Mutter fragte genervt: "Was ist denn da? Da ist doch nichts. Eine Taube. Na und? Hast du denn noch nie eine gesehen? Die gibt es doch in diesem Park wie Sand am Meer. Bitte Karl. Nerv mich jetzt nicht auch noch. Du siehst doch, dass ich mit deinem Brüderchen schon alle Hände voll zu tun habe. Du bist doch schon groß genug."
"Aber Mama", versuchte er hilflos zu erwidern. Er wusste aber, dass es keinen Zweck haben würde. Er musste mit seinem Erlebnis alleine fertig werden. Und niemand würde ihm, falls er den Mut aufbringen würde, es jemandem zu erzählen, glauben.
Als seine Mutter sich wieder weggedreht hatte, grinste die Taube den Jungen noch einmal diabolisch an, und machte sich dann davon.
Dieser Park war ihr Revier. Oder vielmehr: Ihr Spielplatz. Sie hatte hier schon so viel Spaß gehabt. Nie und nimmer würde sie diesen herrlichen Park verlassen.