Hasselbro erwachte, nachdem das helle Tageslicht es irgendwie geschafft hatte, sich durch seine fest geschlossenen Lider hindurchzumogeln. Die Augen noch klebrig vom langen Schlaf, brauchte er eine Weile, bis es ihm endlich gelang, ein erstes Mal vorsichtig in die Welt hinaus zu blinzeln. Den Schmerz, den das plötzlich einfallenden Licht - ungewohnt nach all den Monaten verträumter Dunkelheit - in seinem Kopf verursachte, bezwang er, indem er die Hände so lange in die Augenhöhlen presste, bis alles wieder problemlos zu funktionieren schien. Anschließend gähnte er, streckte sich, durchwühlte seinen schwarz-buschigen Bart und machte sich daran, aus der Zigarrenkiste, die ihm während der warmen Jahreszeiten als Schlafstatt gedient hatte, herauszuklettern. Als er endlich, noch etwas unsicher, auf den Beinen stand, wandte er sich noch einmal um und suchte seine rote Zipfelmütze, die irgendwo in der Kiste liegen musste, da sie ihm - wie üblich während der langen Nacht, die er hinter sich hatte - vom Kopf gerutscht war. Er fand sie und zog sie an, wobei er sorgsam darauf achtete, dass die beiden spitzen Ohren - jene untrüglichen Kennzeichen seiner Rasse, die jeder Gnom, der etwas auf sich hielt, nie und nimmer unter seiner Mütze zu verstecken bereit gewesen wäre - nicht bedeckt wurden.
Noch während er dabei war, auch seine restliche Kleidung zu ordnen, überkam ihn ein mächtiger Gähnanfall.
"Huaaa ... ehhhhh ... jaaa ...", tönte es durch den staubigen Dachboden des Hauses, in dem er seit vielen Jahren lebte und sein stets gut gemeintes, all weihnachtliches Unwesen trieb.
Als auch dies überwunden war, sah er sich um und stellte zu seiner Befriedigung fest, dass sich nichts verändert hatte. Immer noch war der alte Speicher mit denselben abgelegten Sonderlichkeiten angefüllt, welche die Menschen an solch vergessenen Orten aufzubewahren pflegten: unzeitgemäß gewordene Möbel, mottenlöchrige Kleidungsstücke, abgewetzte Koffer und ein paar traurig dreinblickende Puppen und Bären, die ihren längst erwachsenen Besitzern lästig geworden waren und nun keine Funktion mehr erfüllten. Hasselbro seufzte und machte sich auf den Weg zu seinem Lieblingsspiegel, einem wunderschönen Exemplar mit grotesk verschnörkeltem, Gold gelacktem Rahmen.
Anschließend, nachdem er sich ausgiebig begutachtet, ein wenig Körperpflege betrieben sowie einige unbegrenzt haltbare Gnomenkekse aus seinem Notvorrat vertilgt hatte, beschloss er, eine erste Erkundung des Hauses vorzunehmen. Er verließ den Dachboden, brachte die Treppen, die ihn über zwei Stockwerke nach unten ins Erdgeschoß führten, hinter sich und schlenderte zunächst einmal in Richtung Wohnzimmer. Einer jener wunderbaren Momente, auf die er sich jedes Jahr am meisten freute, stand ihm bevor: der allererste Blick auf Baum und Schmuck und Glanz, der erste Atemzug, der angefüllt mit dem Duft nach Pfefferkuchen, Spekulatius und Zimt seine Lungen füllen würde.
Doch die Enttäuschung war groß.
Als er das traditionelle Zentrum der Weihnachtsfeierlichkeiten betrat, lag es vollständig im Dunkeln. Die Läden waren geschlossen, es gab keine Lichter, keinen Glanz, ja, nicht einmal ein Weihnachtsbaum war irgendwo zu sehen.
Für einen Moment verwirrt stand Hasselbro im Eingang und rieb sich die Augen.
Was mochte geschehen sein?
Konnte es womöglich sein, dass er zur falschen Zeit erwacht war? Hatte irgendetwas seinen, eigentlich unfehlbaren, Schlafrhythmus unterbrochen? Natürlich hatte er von solchen Fällen gehört, sie aber stets nur für frei erfundene Geschichten gehalten.
Zuletzt, nach einer Weile angestrengten Überlegens, das zunächst zu keinem schlüssigen Ergebnis geführt hatte, dämmerte ihm, dass es eine sehr einfache Möglichkeit gab, um zumindest die Frage nach der richtigen Zeit einer stichhaltigen Überprüfung zu unterziehen: er musste das Datum des heutigen Tages kontrollieren; drüben in der Küche, wo, wie er sehr wohl wusste, ein kleiner Abreißkalender hing, den seine Familie stets geflissentlich auf dem aktuellsten Stand hielt.
Der Gedanke war noch nicht zu Ende gedacht, da flitzte Hasselbro bereits aus dem Wohnzimmer hinaus, quer durch die Eingangshalle und hinein in die Küche, deren Eingangstür glücklicherweise einen ausreichenden Spalt weit offen gestanden hatte. Normalerweise sollte das vordere, sichtbare Blatt des Kalenders den zweiundzwanzigsten Dezember des gegenwärtigen Jahres anzeigen, jenen Tag also, an dem die Weihnachtsgnome traditionsgemäß aus dem Sommerschlaf erwachten, sich die Bärte kraulten, ihre Mützen zurechtrückten und an die Arbeit gingen.
Hasselbro machte sich daran, das Bein des Küchentisches hinaufzuklettern, griff, ganz oben angekommen, nach dem Rand der Tischdecke und schwang sich behände auf die Oberfläche.
Das Licht, das durch das nahe gelegene Fenster hereindrang, warf ein breites Band aus Helligkeit auf die Wand hinter der Eckbank.
Dorthin, wo der Kalender hing.
Angestrengt kniff er die Augen zusammen und spähte hinüber zu den schwarzen Ziffern, die auf dem vordersten Blatt prangten.
Und da stand es dann. Klar erkennbar für jeden, der es wissen wollte: es war der 22. Dezember 2007, zwei Tage vor Heilig Abend! Die Zeit war korrekt.
Warum also war keine Weihnacht?
Augenblicklich durchfuhr ihn ein anderer Gedanke. Eine alte Geschichte seiner Kindheit warf ihren Schatten auf sein Gemüt: die Legende vom Finstermacher, dem Erzfeind der Weihnacht, Zerstörer des Lichts und Vernichter des Friedens!
Konnte es sein, dass...
Hasselbro schluckte.
Auch diese Vermutung würde er einer beweiskräftigen Untersuchung unterziehen müssen.
Da ihm das Küchenfenster keine ausreichende Sicht nach draußen bot, machte er sich auf den Rückweg zum Speicher. Er musste aufs Dach steigen und von dort aus einen Blick über die Stadt werfen. Unzweifelhaft würde das Wirken des Finstermachers, so er es denn tatsächlich war, der die Verantwortung für all dies trug, unmittelbar zu erkennen sein, wenn es ihm vor Augen stand.
Indes er wieder nach oben unterwegs war, spulte sich in seinem Kopf die alte Gnomenlegende von Palladius Finstermacher ab, die er während seiner Kindheit so oft gehört hatte...
Einst, in lang vergessenen Tagen, als die Gnome des hohen Nordens jene denkwürdige Versammlung abhielten, in deren Verlauf der Beschluss gefasst wurde, auszuziehen in die großen Städte der Menschen jenseits der Wälder, gab es eine Gruppe, die sich der letztgültigen Entscheidung des Things widersetzte. Palladius Finstermacher und seine Anhänger waren nicht bereit, sich der Mehrheit zu beugen.
Es galt ihnen als Schande, dass - so des Finstermachers Argumentation in einer Rede, die er vor dem Thing hielt - das Gnomentum, das schließlich um einiges älter war als der Mensch, sich diesem unterwerfen solle, anstatt ihn zu beherrschen.
Doch das nordische Gnomentum war schon immer ein Hort der Demokratie gewesen. Widerstand gegen einen mehrheitlichen Beschluss des Things galt als unverzeihlicher Verstoß gegen die Regeln.
Palladius wurde aufgefordert, sich zu beugen, schließlich, so hieß es, würde er nicht persönlich dazu verpflichtet sein, die Wälder zu verlassen, um bei den Menschen zu leben.
Aber der Finstermacher zeigte keine Einsicht. Er hegte einen unbelehrbaren Groll in seinem Herzen, seit sein Bruder einst von einem unachtsamen Menschen getötet worden war. Die Tatsache, dass die Gnome, laut Beschluss, nur als schadenfrohe, aber doch gute Helfer des Menschen in Erscheinung treten sollten, war ihm ein Gräuel.
Es kam zum Bruch.
Palladius wurde, nachdem er sich weiter beharrlich geweigert hatte, die Entscheidung zu akzeptieren, aus der Gemeinschaft ausgeschlossen und verbannt; der Status eines vollwertigen Gnoms wurde ihm aberkannt; man nahm ihm - offizieller Ausdruck der höchsten Bestrafung, die einem Gnom widerfahren konnte - die Mütze, und stutzte ihm den Bart auf ein unwürdige Mindestmaß zurück.
Dermaßen entehrt verließ Palladius Finstermacher schließlich die Versammlung und konnte es, zuletzt, bevor er ging, nicht unterlassen, dem Vorsitzenden des Things seine Verachtung vor aller Augen ins Gesicht zu spucken. Ein unerhörtes Vorkommnis, wie es sich bis dahin noch nie zuvor in der Geschichte des Gnomentums ereignet hatte.
Seit diesem Tag also blieben er und seine Getreuen, die ihm gefolgt waren, spurlos verschwunden. Niemand konnte sagen, ob die Abtrünnigen noch in den Wäldern und Bergen des Nordens hausten oder ob sie, wie manche glaubten, selbst, auf eigene Faust, in die Welt hinausgezogen waren, um ihren Hass gegen die Menschheit auszuleben.
Es gab Gerüchte, hier und da, und allmählich wurde der Finstermacher zur Legende. Eine Geschichte, die man sich des Nachts an den Waldfeuern erzählte und die jeder Gnom kannte. Eines Tages, so raunte man sich ängstlich zu, würde der Verstoßene zurückkehren, um sich an den Menschen zu rächen, ihnen Freude und Festlichkeit zu rauben, und das Licht zu verdunkeln...
Als Hasselbro auf dem Dach angelangt war - es hatte eine Weile gedauert, bis er den selbst errichteten Turm aus alten Schuhschachteln und Kisten, der in sich zusammengefallen war, neu errichtet hatte - spähte er nervös über die halb mit frischem Schnee bedeckten Dächer. Über kräftig rauchende Schornsteine und den Wald der Antennen und Satellitenschüsseln hinüber zu jener Stelle, an der normalerweise die Spitze des riesigen Weihnachtsbaums zu sehen war, den die Menschen jedes Jahr auf dem Marktplatz errichteten.
Er fand sie nicht.
Stattdessen bemerkte er eine seltsame, schwere Wolke, die dicht über der Stadt hing. Ein dunkler Dunst, der zunehmend tiefer zu sacken schien. Zudem konnte Hasselbro jetzt einen widerlich fauligen Gestank wahrnehmen, der die Luft um ihn herum erfüllte.
Etwas Derartiges, dachte er, kann nur das Werk des Finstermachers sein.
Tapfer kämpfte er eine aufkeimende Panik nieder, dann gelangte er zu den unerschütterlichen Reserven seines gnomenhaften Stolzes.
Es lag nicht in seiner Absicht, sich dieser Ungeheuerlichkeit zu beugen.
Nein.
Wenn der Finstermacher den Kampf wollte, so sollte er ihn haben!
Hasselbro schob die Mütze ein wenig tiefer ins Gesicht und hob den mitgebrachten Feldstecher an die Augen.
Was er durch die beiden runden Zwillingsausschnitte des Fernglases sah, bestätigte noch einmal seine schlimmsten Befürchtungen. Drüben auf der anderen Straßenseite, im dritten Stock eines goldgelb gestrichenen Hauses, das schon hundert Jahre oder sogar älter sein mochte, entdeckte er hinter den Fenstern seinen alten Freund Farmhölder, schlaff und ohne Bewusstsein, gefesselt an einen Blumentopf.
Hasselbro ließ den Blick weiter schweifen.
Fenster für Fenster, Stockwerk für Stockwerk suchte er ab, solange, bis auch noch der allerletzte Zweifel beseitigt war. Nirgendwo gab es auch nur das geringste Anzeichen weihnachtlichen Glanzes. Das Fest schien wie ausgelöscht, und die Menschen, egal ob in den Straßen oder in ihren trostlos ungeschmückten Wohnungen, zeigten nicht die geringste Spur weihnachtlicher Vorfreude.
Dies ist des Finstermachers Werk, dachte Hasselbro nunmehr vollkommen überzeugt und ließ das Fernglas sinken.
Er war sich im Klaren darüber, dass ihm nicht viel Zeit blieb. Er musste handeln. Sofort.
Er verließ das Dach, stieg durch die Luke wieder hinab und rannte hinüber zum Gnomentelefon.
Unterwegs dankte er den Geistern des Waldes dafür, dass der städtische Gnomen- und Wichtelverband vor Jahren bereits beschlossen hatte, die provisorische Verbindung, die exakt für derartige Notfälle gedacht war, einzurichten. Jedes Haus, das von einem Weihnachtsgnom bewohnt wurde, verfügte seitdem über mindestens drei Sprachverbindungen zu anderen Gnomen in anderen Häusern der unmittelbaren Nachbarschaft.
In einer dunklen Ecke des Speichers räumte er polternd einen Haufen alter Kleider und Kostüme zur Seite und legte so die drei kleinen, ins Holz der Dachkonstruktion eingelassenen Büchsen frei. Drei unscheinbare, kreisrunde Öffnungen, jede in etwa so groß wie ein Fingerhut und sorgsam nummeriert.
Eins, zwei, drei.
Hasselbro zog an der ersten Büchse, ließ sie aber sofort wieder zurück gleiten. Anschluss No. 1 gehörte zu Farmhölder - und Farmhölder, sein armer, geschundener Freund aus Kindertagen, würde, solange er ohne Bewusstsein war, sicher keinen Anruf beantworten können.
Also versuchte er es mit dem zweiten Anschluss.
Er ließ sich in den Schneidersitz nieder, zog nun die mittlere der drei Büchsen aus der Öffnung, und unternahm einen ersten Kontaktversuch.
"Kalma? Kalma, hörst du mich? Hier ist Hasselbro..."
Keine Antwort.
Nach ein paar Sekunden versuchte er es ein zweites Mal, erntete aber auch diesmal nichts als Schweigen.
Nervös schob er die Mütze aus dem Gesicht, strich seinen Bart und betrachtete prüfend den silbrig glänzenden, aus Gnomenhaar geflochtenen Faden, der aus der Rückseite der Dose herausragte.
Alles schien in Ordnung.
Er langte nach der dritten Büchse, zog auch diese aus ihrer Halterung und rief nach Rasmussen.
Wieder erhielt er keine Antwort.
Enttäuscht, und ziemlich ratlos, war er gerade im Begriff, sich abzuwenden, als eine hohl klingende Stimme ihn aufhorchen ließ.
"Bro? Bist du das? Bro?"
Hasselbro beeilte sich zu antworten.
"Rasmussen? Ja. Was ist los? Bist du in Ordnung?"
Er hielt sich die Dose ans Ohr und wartete.
"Mir geht's gut, den Umständen entsprechend, mein ich natürlich. Hör zu, Bro, der Finstermacher und seine Bande sind in der Stadt! Seit Tagen sind sie dabei, alle Weihnachstgnome und auch die Wichtel außer Gefecht zu setzen. Die Legende ist wahr. Eine magische Wolke erstickt die Weihnacht!"
Kurz waren nur noch Geräusche zu hören, so als könne Rasmussen nur mit Mühe die Dose auf seiner Seite der Leitung erreichen.
Dann aber wieder die vertraute Stimme.
Dringlicher und ernster diesmal.
"Hasselbro, bist du noch frei? Kannst du dich frei bewegen?"
Hasselbro bejahte.
"Den Geistern sei Dank", erklang es aus der Büchse. "Du hast keine Zeit mehr zu verlieren, sie werden schon auf dem Weg zu dir sein. Du musst den Stern zum Leuchten bringen! Hörst du! Nur das Licht eines roten Sterns kann das Unheil noch aufhalten. Bro, hörst du mich? Hast du verstanden, was ich sage?"
Hasselbro hatte verstanden.
Die roten Sterne enthielten, jeder einzelne für sich, die gesamte, gebündelte Kraft der Weihnacht. Sie waren mächtige, zauberkräftige Artefakte des Gnomentums. Fünf von ihnen waren an verschiedenen Orten in der gesamten Stadt versteckt.
Patsch.
Hasselbro schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn. Warum war er nicht von selbst darauf gekommen? Die roten Sterne, sie waren die Rettung.
"Rasmussen? Wo befindet sich das nächste Versteck? Ich habe die Lagepläne nicht mehr im Kopf"
Es dauerte wieder eine Weile, bis die erlösende Antwort zu vernehmen war.
"Ganz in deiner Nähe.", schepperte es endlich aus der Büchse heraus, "Etwa zwei Kilometer von eurem Keller entfernt, unten in der Kanalisation, nicht weit von unserem alten Versammlungsort, befindet sich in einem schmalen Seitengang ein unterirdisches Versteck. Folge den roten Markierungen an den Wänden, Bro. Sie werden dich..."
Die Stimme erstarb.
Hasselbro stutzte, hatte aber keine Zeit, sich weitere Sorgen um Rasmussen zu machen.
Er sprang auf und lief los.
Wieder die Treppe hinunter, wieder durch die Halle, gelangte er schließlich unbehelligt in den Keller und fand den kleinen, mit einer selbst gezimmerten Holztür gesicherten Durchlass, der ihn in die Kanalisation unter der Stadt führen würde.
Die Tür knarrte, als er sie öffnete.
Muffiger Geruch nach Erde, Rattenkot und den Ausdünstungen der Kloake schlug ihm entgegen. Rasch verscheuchte er eine fette Spinne, die damit begonnen hatte, ihr Fangnetz auszuspinnen. Wuselig machte sie sich an der Decke entlang davon.
Hasselbro betrat den Gang und kämpfte sich durch Spinnenweben und Wurzelfäden bis zu dem unregelmäßigen Durchbruch, der ihn zu einem Kanal führte, durch dessen Mitte stinkendes, braun gefärbtes Abwasser floss. Knotige Exkremente und allerlei andere Abfälle schwammen in der Brühe.
Vorsichtig, um nicht etwa die Aufmerksamkeit einer beutegierigen Ratte auf sich zu lenken, die es hier unten zu Hauf gab, lief er neben dem gurgelnden Wasserlauf entlang und erreichte, nach mehreren Abzweigungen, den früheren Versammlungsraum des städtischen Gnomen- und Wichtelverbandes.
Wie lang, bei den Geister des Waldes, war er nicht mehr hier unten gewesen?
Hasselbro warf einen kurzen Blick in den verdreckten Versammlungsraum, wo staubige Tische und Stühle ungeordnet herumstanden, dann hastete er weiter. Wie dankbar war er für die winzigen, an den Wänden aufgezeichneten, roten Sterne, die ihm den Weg wiesen. Er selbst hätte sich, ohne ihre Hilfe, beim besten Willen nicht mehr erinnern können.
Dann war es soweit.
Am Ende einer Sackgasse, die extra für diesen Zweck gegraben worden war, lag der Erdbunker, der den Stern enthalten sollte.
Er ließ sich nieder und begann zu graben. Nach einer Weile, die ihm wie eine Ewigkeit vorkam, stieß er auf eine eisenbeschlagene Kiste, öffnete sie und entnahm ihr den Stern.
Ohne weiteres Zögern machte er sich auf den Rückweg.
Er erreichte den Ausgang aus der Kanalisation und gelangte schließlich wohlbehalten zurück in den Keller.
Was blieb zu tun?
Er musste so schnell wie möglich hinauf aufs Dach, um den Stern dort anzubringen und mittels der magischen Worte zu aktivieren.
Bei diesem Gedanken traf ihn fast der Schlag.
Die Worte?
Wie, zum Teufel, lauteten die Worte?
Keine Zeit, um sich jetzt darum zu kümmern, dachte Hasselbro, ich muss mich darauf verlassen, dass sie mir in den Sinn kommen, wenn es soweit ist, und zur Not werde ich eben ein weiteres Mal mit Rasmussen sprechen müssen.
Den fünfzackigen Plastikstern auf seinen Schultern setzte er den Weg fort.
Die Kellertreppe hoch und hinein in die Halle.
Schweiß rann ihm inzwischen aus allen Poren, und er ächzte unter dem ungewohnten Gewicht auf seinem Rücken.
Oben angekommen, richtete er sich für einen Moment auf, um seinem schmerzenden Kreuz ein wenig Ruhe zu gönnen, als - so unvermittelt, dass er es zunächst überhaupt nicht begreifen konnte - das Ende kam.
Vor sich, etwa fünf Meter entfernt, bemerkte er die wabernden Schemen mehrerer Abtrünniger.
Hasselbro starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an.
Und dann, als er sich bereits selbst davon überzeugt hatte, dass es nicht mehr schlimmer kommen konnte, teilte sich die Gruppe - und machte Platz für die Furcht erregende Gestalt des Finstermachers persönlich.
Trotz seiner Angst und der trockenen Kehle, die ihm das Schlucken unmöglich machte, verspürte Hasselbro eine gewisse Neugier. Schließlich stand man nicht alle Tage einer leibhaftigen Legende gegenüber.
Die Erscheinung des Finstermachers war, wie Hasselbro bemerkte, offensichtlich um einiges manifester, als die seiner Gefolgsmänner. Er war außergewöhnlich groß, geradezu muskulös, und trug, neben dem üblichen schwarzen Gewand, eine weiße Porzellanmaske, die zu einem permanenten Ausdruck des Hasses, vermischt mit einer Spur von Abscheu geformt war. Im Gegensatz zu seinen Leuten, die stecknadelgroße Gnomenschwerter hielten, war er unbewaffnet.
"Du hast versucht, dich mir in den Weg zu stellen, meine Pläne zu durchkreuzen. Ist es nicht so, mein Freund?"
Die Stimme des Verächters klang donnernd durch die Halle, schien von allen Seiten gleichzeitig zu erklingen.
Hasselbro begann am ganzen Leib zu zittern.
Was konnte er jetzt noch ausrichten?
Er sah sich um. Eine Waffe hatte er nicht. Abgesehen natürlich von der Steinschleuder und ein paar Erbsen, die er immer in der Hosentasche mit sich trug, um sie für seine Streiche zu verwenden. Aber es würde - das war klar - sinnlos sein, sie gegen den mächtigen Geist aus alten Tagen einzusetzen. Und auch der Stern war nutzlos. Er konnte nur unter freiem Himmel beschworen werden.
Hasselbro gab auf.
Er sah keine Chance mehr und resignierte.
Er hatte es versucht, doch es hatte nicht sein sollen.
Enttäuscht sackte er auf die Knie, und als er sah, wie die Schatten des Finstermachers und seiner Getreuen sich bedrohlich langsam auf ihn zu bewegten, schloss er die Augen. Er war bereit, sich dem Schicksal zu überlassen, wie immer dieses auch aussehen mochte.
Wahrscheinlich, so dachte er noch, würde der Finstermacher ihn verbrennen oder seinen Schergen befehlen, ihm den Kopf abzuschlagen, oder...
Er zog die Schultern nach oben und wartete, und wartete, und ... vernahm mit einem Mal das entfernte Geräusch eines Schlüssels, der im Inneren eines Schlosses umgedreht wurde.
Die Tür!
Skeptisch öffnete Hasselbro ein Auge.
Und tatsächlich: die Haustür war offen, und dort, auf der gegenüberliegenden Seite der Eingangshalle, stand - seine Menschenfamilie. Allesamt waren sie da: Toby und Lucy, die beiden Kinder, der stets ernst wirkende Vater und sogar die gemütlich erscheinende Mutter mit dem rosigen Gesicht und der schrillen Stimme.
Das jedoch war noch nicht das eigentlich Entscheidende.
Allen voran nämlich nahte die Rettung in Gestalt des ausgelassen heranhechelnden Familiendackels Kaspa, der quer durch die Halle auf ihn zugeschlittert kam. Auf krummen Beinen, mit spitzer Nase und fliegenden Hängeohren preschte dieser kurz darauf mitten in die Gruppe der verblüfften Abtrünnigen hinein. Diese kreischten wild und stoben auseinander. Einige von ihnen lösten sich sofort in Luft auf.
Hasselbro konnte sein Glück kaum fassen, war aber geistesgegenwärtig genug, um die Chance, die sich ihm bot, zu nutzen. Er wuchtete den Stern wieder auf die Schultern und machte sich auf in Richtung Treppe.
Und er schaffte es.
Am Ende seiner Kräfte stand er schließlich auf dem Dach, bewältigte auch noch das letzte Stück hinauf auf einen der vielen Giebeltürme, die es hier gab, und begann damit, den Stern zu befestigen.
Gehetzt warf er zwischendurch, als er mit einem Mal eine unbestimmte Bedrohung hinter sich spürte, einen Blick zurück zur Dachluke. Und sah, wie sich dort die Gestalt des Finstermachers nach oben zog.
Die Worte!
Wie lauteten die Worte?
Verzweifelt suchte Hasselbro in seiner Erinnerung nach der magischen Formel. Dann, hatte er das Gefühl, dass sie ihm auf der Zunge lagen.
Er probierte es.
"Arkanum Starum Sabator!", rief er, und bemühte sich um einen angemessen dramatischen Tonfall.
Es geschah - nichts.
"Arkanum Sarum Sabatot!"
Wieder nichts.
Der Finstermacher näherte sich derweil dem Giebel und griff bereits nach den unteren Dachschindeln. Sein Gewand war an vielen Stellen zerrissen und es fiel ihm offensichtlich schwer, sich noch auf den Beinen zu halten. Anscheinend war er geschwächt von den wilden Attacken des treuen Kaspa.
Hasselbro wurde zunehmend nervöser: probierte es erneut, verhaspelte sich, probierte es erneut, verhaspelte sich., variierte die Formel, probierte es erneut ...
Die Klaue des Finstermachers näherte sich seinem Bein, fast berührte sie es.
Dann, endlich, beobachtete er, wie ein unstetes Flackern im Inneren des Sterns erwachte. Ein Pulsieren und Glühen.
Hasselbro schrie auf.
Noch einmal wiederholte er die Formel, die das Flackern hervorgebracht hatte.
"Arkanum Starum Zabrot!"
Ein gleißend rotes Licht explodierte aus einem glühenden Zentrum im Inneren des Sterns, Strahlen schossen nach allen Seiten davon. Das Licht wurde größer, mächtiger, roter und stärker.
"Bei den Geistern des Waldes, es ist vollbracht", flüsterte Hasselbro noch, dann verlor er die Besinnung.
*
Als er, Stunden später, zum zweiten Mal an diesem Tag erwachte, wusste Hasselbro zunächst weder wo er sich befand, noch was eigentlich passiert war. Ein intensives, rotes Licht brannte in seinen Augen. Er sah, ein Stück über sich, den roten Stern und, schneller als ihm lieb war, flutete die Erinnerung in seinen Geist zurück.
Ruckartig setzte er sich auf und sah sich um. Sein erster Blick galt dem Himmel. Die dunkle Wolke, die die Stadt in ihrem Zwinggriff gehalten hatte, war verschwunden, stattdessen stand jetzt ein klare Wintersonne am blauen Himmel. Dann sah er über die Landschaft der Hausdächer. Dort ragte deutlich sichtbar die Krone des großen Weihnachtsbaumes empor, bunt geschmückt, mit einem blond gelockten Rauschgoldengel auf der Spitze. Außerdem roch es, wie Hasselbro jetzt schnuppernd registrierte, eindringlich nach Glühwein und Gewürzen, und unten auf der Straße marschierte eine Blaskapelle vorbei und ließ die schräge Version eines bekannten Weihnachtsliedes erklingen.
Hasselbro grinste, stand auf, streckte sich, fühlte nach seiner Zipfelmütze und kraulte seinen Bart. Immer noch klang die Weihnachtsmelodie zu ihm herauf. Gut gelaunt begann er leise mitzusummen. Es war, wenn man ihn fragte, die schönste Weihnachtsmelodie, die er je gehört hatte.
Aber eigentlich, so fiel ihm auf, blieb gar keine Zeit für müßige Gedanken. Schließlich war Weihnachten, und er hatte noch verdammt viel zu erledigen.