Alles ist gut vorbereitet. Der Weihnachtsbaum geschmückt. Liebevoll verpackte Päckchen liegen darunter. Ein letzter, prüfender Blick auf den gedeckten Tisch. Dort steht und liegt alles, wie es sein soll. Auch in diesem Jahr hat Caroline sich nicht von der Weihnachtshektik anstecken lassen. Aber jetzt ist sie ein wenig aufgeregt. "Freude steht dir gut, meine Liebe", sagt Achim und legt seiner Frau den Arm um die Schultern. Gemeinsam gehen die beiden zur Haustür. Sie halten Ausschau. Die Kinder müssten in wenigen Augenblicken wieder zurück sein.
"Keine Sorge, Caroline! Es ist nichts passiert. Robin und Alana sind vorsichtige Autofahrer. Vielleicht stehen sie in einem Stau. Obgleich ich mir das nicht vorstellen kann. Heiligabend ist eigentlich nie etwas los auf den Straßen", wollte Achim gerade sagen, als mit lautem Gehupe ein Auto vor dem Haus anhält.
"Oma, Opa!", ruft ein etwa vier Jahre altes Mädchen und läuft Caroline direkt in die Arme. Dann wendet es sich seinem Opa zu, umarmt ihn heftig und fragt: "Hast du dir wieder ein neues Weihnachtsmärchen für mich ausgedacht, Opa?"
"Natürlich, meine Kleine. Nach der Bescherung werde ich dir die Geschichte vorlesen. Einverstanden?"
"Ach, Mano, Opa! Da muss ich ja viel zu lange warten. Kannst du nicht sofort erzählen?"
Robin nimmt seine Tochter an die Hand. "Das geht jetzt nicht, Destiny. Zuerst wollen wir Mittag essen. Du bist doch auch hungrig. Oma hat bestimmt wieder ein Überraschungsessen für uns."
"Ja, gut. Und nach dem Essen gehen wir zum Strand. Dann ist Bescherung und dann kann Opa mir seine Geschichte erzählen. OK?"
Voller Stolz sieht Robin Destiny an. Wie sehr sie ihrer Mutter gleicht!
Die gleichen grünen Augen. Das gleiche rotblonde, lange Haar. Ebenso die entzückende Stupsnase, behaftet mit fünf Sommersprossen in gerader Linie.
Leichter Nieselregen begleitet den Strandspaziergang. Er stört nicht. Destiny genießt es in den Pfützen herum zu planschen. Eifrig sucht sie nach Muscheln und Seesternen.
"Guck mal, Papa! Die dicke Möwe hat gar keine Angst vor mir! Schade, dass wir kein altes Brot mitgenommen haben. Wissen die Möwen eigentlich, dass heute Weihnachten ist, Papa?"
"Gute Frage, meine Kleine. Beantworten kann ich sie dir leider nicht. Robin und Alana nehmen ihre Tochter in die Mitte und laufen zum Wasser. Die dicke Möwe trippelt hinterher. Ab und zu bleibt sie stehen und starrt den jungen Menschen nach. Robin dreht sich um. Die Möwe steht vor ihm, macht keine Anstalten, weg zu fliegen. Aus Kohlraben schwarzen Augen taxiert sie ihr Gegenüber. Langsam, sehr langsam streckt die Erinnerung ihre Fangarme Robin entgegen. Die Möwe krächzt ungewöhnlich leise: "Stürom, Stürom!" Es klingt wie komm, komm, denkt Robin. Machtvoll verdrängt die Erinnerung die Gegenwart. Erstaunt, jedoch voller Zweifel betrachtet Robin die Möwe. Ist es möglich? Kassandra! Botschafterin meines Glücks!
"He, Papa! Träumst du?"
"Nein, Schätzchen. Mir ist gerade eine Geschichte eingefallen. Ich möchte sie dir gerne erzählen. Mama kennt diese Geschichte schon lange. Doch ich glaube, sie hört sie immer wieder gern:
Da! Da ist sie wieder. Die dicke Möwe sitzt auf dem Fensterbrett. Neugierig schaut sie durch das Küchenfenster. Seit einigen Tagen kommt sie. Immer in der Mittagszeit. Robin stellt sich auf das Fußbänkchen.
"Mama! Kassandra ist gekommen!", ruft er aufgeregt.
"Vielleicht fliegt sie heute nicht weg, wenn ich das Fenster öffne. Kann man Möwen zähmen, Mama? Kassandra sieht so lieb aus! Sie will sich bestimmt mit mir anfreunden. Was meinst du?"
Mit einem kleinen Seufzer stellt Caroline das Bügeleisen zur Seite.
"Ach, kleiner Robin", denkt sie. "Größter Fantast unter der Sonne! Wie sehr ähnelst du deinem Vater! Wilde Tiere freunden sich nicht an. Die Möwe sucht nach Futter. mehr nicht! In den Geschichten deines Vaters erleben Tiere unwahrscheinliche Abenteuer. Klar, dass sie auch reden können. Zwei Märchenerzähler in der Familie sind nicht immer leicht zu ertragen." Lautes Scheppern holt sie aus ihren Gedanken.
Caroline läuft in die Küche. Ach du lieber Himmel! Die Blumenkanne und die Zinnbecher liegen in einer riesigen Kakaolache auf dem Küchenboden.
Braune Tropfen rinnen aus der umgekippten Tasse über die Arbeitsplatte.
"Wie ist das denn passiert, Robin? Ich kann es mir schon denken. Du hast die Fensterbank nicht abgeräumt! Richtig?"
Mama muss sich sehr bemühen ernst zu bleiben. Robin hat sein ‚Weltuntergang-Gesicht' aufgesetzt. Bedächtig schüttelt er den Kopf.
"Ähm. Also: Ich kann überhaupt nichts dafür. Schuld ist die Möwe. Sie ist unheimlich schnell in die Küche geflogen. Die Fensterbank war abgeräumt! Vielleicht standen die Kanne und die anderen Sachen ziemlich nah am Fenster. Kann ja sein! Kassandra hat sich fremd in unserem Haus gefühlt. Sofort ist sie wieder zum Fenster raus. Dabei hat sie mit ihren großen Flügeln alles umgeworfen. Leider auch meinen Kakao, Mama!"
Die unschuldigen Augen und das kleine Lächeln überzeugen Caroline keineswegs.
"In Ordnung, Robin", sagt sie ruhig. "Fangen wir noch einmal von vorne an. Kleine Lügengeschichten sollten endlich vorbei sein. Hast du unser Gespräch über dieses Thema vergessen?"
Vergessen? Nein! Robin glaubt an seine Geschichten. Er mag doch gar nicht lügen.
"OK. Ich habe das Fenster nur ein bisschen geöffnet. Ganz langsam die Hand ausgestreckt. Kassandra wollte sich aber nicht streicheln lassen. Sie hat heftig mit den Flügeln geflattert und mich ‚angeschrieen'. Da habe ich vor Schreck das Fenster aufgerissen. Natürlich sind alle Sachen runter gefallen. So war es, Mama. Ehrlich!"
Papa steht schon seit einiger Zeit in der Tür. Leicht belustigt schaut er Caroline und Robin an.
"Die erste Version hat mir besser gefallen. Man könnte eine Geschichte daraus machen. Die Zweite ist eher langweilig. Also die Wahrheit! Du kannst ihm glauben, Caro", versichert er seiner Frau.
Caroline lächelt, kehrt zum Bügelbrett zurück. Gemeinsam beseitigen Vater und Sohn das kleine Missgeschick. Im Handumdrehen herrscht wieder Ordnung in der Küche.
"Robin und ich gehen in den Garten. Ich möchte ihm das neue Kapitel vorlesen. Robins Meinung zu dieser Kindergeschichte ist mir sehr wichtig! Bis zum Essen sind wir wieder da. Einverstanden, Caro?"
Begeistert hört der Achtjährige zu. Papas Erzählung klingt beinahe wie ein Märchen.
"Toll, Papa! Es gibt aber schon einige Meerjungfrauen-Geschichten. Die von Hans Christian Andersen mag ich besonders gern. Deine Nixe wird anderen Kindern auch gefallen. Wann bist du damit fertig? Kann ich heute Abend noch mehr hören?", fragt er.
"Weiß ich nicht, mein Junge! Im Augenblick habe ich einen Gedankenstau, trete auf der Stelle. Mal sehen, was sich am Nachmittag ergibt."
Nach dem Mittagessen geht Robin zum Strand.
Eine Möwe trippelt über den Sand. Hin und her. Her und hin.
"Die kenne ich doch! Dass ist Kassandra! Sie schaut mich so merkwürdig an. Ob sie mich auch erkannt hat? Was macht sie denn jetzt? Oh, sie läuft auf mich zu! Scheint keine Angst zu haben. Was will sie nur?", überlegt der Junge.
Robin setzt sich in die Hocke. Mit leisen, ruhigen Worten versucht er das Tier an zu locken. Kassandra beachtet die ausgestreckte Hand mit den Brotkrumen nicht. Plötzlich krächzt sie den Jungen an.
"Stüromm! Stüromm!" Für Robin klingt es wie komm, komm!
"Hee, Kassandra! Möchtest du mir etwas sagen? Möwisch verstehe ich leider nicht."
Eindringlich starrt die Möwe den Jungen an. Mit lautem Gekrächze fliegt sie plötzlich davon. Elegant landet sie auf dem kleinen Felsen vor den Klippen.
Robin läuft ihr nach. Er hat verstanden. Kassandra will ihm etwas zeigen.
Schnell hat Robin die Strandfelsen erreicht.
"Du hast deinen Eltern versprochen, nicht allein in den Klippen herum zu klettern", warnt das Gewissen leise.
"Mach ich auch nicht. Hier zwischen den Strandfelsen darf ich immer spielen. Dort ist es nicht gefährlich, weißt du doch!", beruhigt er die warnende, innere Stimme.
Von Brocken zu Brocken hüpft Kassandra. Robin folgt ihr. Anstrengend ist solch eine Kletterpartie. Bald ist der Junge ziemlich außer Atem.
Erschöpft ruht er sich auf dem letzten Fels vor den gefährlich ansteigenden Klippen aus. Kassandra fliegt pfeilgerade auf die Felswand zu. Plötzlich ist sie nicht mehr zu sehen. Robin kann sich das Verschwinden der Möwe nicht erklären. Verwundert schaut er sich die vor ihm aufragenden Klippen an.
Den Höhleneingang in der Felsenwand hat er noch nie gesehen. Und den kleinen See vor der Grotte auch nicht!
"Vielleicht wohnt Kassandra in dieser Höhle?"
Ärgerliches, zorniges Rufen lenkt Robin von seinen Gedanken ab.
"Hilfe! Ach verflixt! Wie komme ich hier nur weg? Allein schaffe ich es nicht!
Weshalb habe ich mir nur diesen einsamen See ausgesucht?"
Robin traut seinen Augen nicht. Im Wasser vor dem Höhleneingang strampelt ein etwa zehnjähriges Mädchen. Große, grüne Augen blitzen den Jungen böse an.
"Nun komm schon!", ruft das wütende Mädchen. "Brauchst keine Angst zu haben. Das Wasser in meinem kleinen Teich ist nicht sehr tief. Ich habe mir in einer Felsspalte mein Haar eingeklemmt. Nun sitze ich fest. Hilf mir! Bitte!"
Robin spürt die Kälte des Wassers nicht, hat keine Zeit darüber nach zu denken.
Mit wenigen Schritten hat er die Fremde erreicht. Vorsichtig zieht er eine Haarsträhne nach der anderen aus der Felsspalte. Puh! Endlich geschafft!
Beinahe versinken die braunen Augen des Jungen in den riesigen grünen Augen der Kleinen. Minutenlanges Schweigen. Kassandra hat die Höhle verlassen. Sie gesellt sich zu den Kindern, schlägt heftig mit den Flügen. Ihr lautes Geschrei holt die Kinder aus der Versunkenheit.
"Danke, Junge! Ohne dich säße ich hier bis zum ‚Sankt Nimmerleinstag' im Wasser. Von unten hat ja keiner meine Hilferufe gehört", grummelt die Kleine.
"Ich heiße Robin, nicht Junge! Verrätst du mir deinen Namen? Oder möchtest du nur Mädchen genannt werden?"
Der Zorn hat die schönen, grünen Augen längst verlassen.
Das Mädchen räuspert sich, schaut Robin ein wenig verlegen an.
"Also gut! Ich werde Alana genannt. Mama nennt mich Lenchen. Nur wenn sie sauer auf mich ist, sagt sie Alana. Jetzt wäre sie wahrscheinlich ziemlich wütend. Sie will nicht, dass ich mit fremden Menschen spreche.
Zum Glück kommt sie nie zu meinem Lieblingsplatz. Wir können uns unterhalten, so lange du willst, Robin."
Hinter dem Lächeln steckt eine Bitte. Robin spürt das sehr wohl.
Fröhlich lächelt er Alana an.
"Wir können auch zusammen am Strand spielen", schlägt er vor. "Wo sind deine Sachen, Alana? Ich hole sie dir gern? Das Wasser ist unheimlich kalt. Komm doch raus! Die Sonne macht dein langes Haar ganz schnell trocken." Suchend blickt Robin sich um. Nirgendwo liegen Kleidungsstücke. Nicht mal ein Handtuch. Merkwürdig! Vielleicht hat irgendein Witzbold Alanas Sachen versteckt. Oder gestohlen?
"Mensch, Alana! Du weinst ja! Mach dir keine Sorgen. Ich finde deine Sachen, ganz bestimmt!", tröstet Robin. Das fremde Mädchen schüttelt heftig mit dem Kopf. So heftig, dass plötzlich winzige, grüne Sternenblumen aus den langen Haaren ins Wasser fallen.
"Oh!", ruft Robin begeistert. "Sind die hübsch! Wo hast du die denn gekauft? Über solche Blümchen würde meine Mama sich ganz doll freuen. Hundertprozentig!"
Alana fischt eine Handvoll Blümchen aus dem Wasser.
"Hier, die schenke ich dir. Bei mir zu Hause gibt es eine Menge davon. Sie fliegen nur so herum. Sind nichts Besonderes. Aber höchstwahrscheinlich willst du die Dinger gar nicht behalten, wenn du erst weißt, wer ich bin. Gerne möchte ich zu dir in die Sonne kommen. Doch ich habe Angst. Angst, dass du augenblicklich davon läufst. Ich sehe nur zur Hälfte wie ein Mensch aus! Schau her!"
Mühsam robbt sich Alana aus dem Wasser. Gespannt fixieren die großen, grünen Augen Robins Gesicht. Nichts von dem, was Alana erwartet, geschieht.
Robin strahlt. Ein Lächeln breitet sich aus. Fröhlich sieht der Junge seine neue Freundin an.
"Welch ein Glück! Wie kann einer alleine nur so ein Glück haben! Eine echte Nixe! Endlich! Ich wusste doch, dass es euch noch gibt. He! Supercool, Alana!
Kein Mensch wird mir glauben! Nicht mal Papa! Und der erfindet immerzu Meerjungfrauen-Geschichten", ruft der Junge übermütig.
Kassandra sitzt am Höhleneingang. Wohlwollend beobachtet sie das Spiel der Kinder.
Robin und Alana schmücken ihre Sandburg mit Muscheln und natürlich mit den winzigen Blütensternchen. Die Sternchen fühlen sich weich an. Sie erinnern Robin an Bernstein.
"Früher gab es eine Menge Bernstein auf unserer Insel", erzählt er. Ein Künstler hat sogar ein Zimmer daraus gebaut. Hat Papa mir erzählt. Kannst du dir das vorstellen, Alana? Ein großes Zimmer nur aus Bernstein?"
Die kleine Nixe nickt. Im Reich ihrer Eltern gibt es viele wundersame Räume.
"Ach du liebe Zeit!", sagt Robin erschrocken. "Schau, wie lang unsere Schatten sind. Es ist spät! Leider muss ich jetzt gehen, Alana. Sicher ist es schon nach sechs Uhr. Mama macht sich bestimmt Sorgen! Tut sie immer, wenn ich mal nicht pünktlich bin. Also dann! War ein toller Nachmittag.
Wenn du möchtest, besuche ich dich bald wieder."
Glücklich lacht die kleine Nixe ihren Freund an. Natürlich will sie Robin wieder sehen.
"Ja bitte! Ich schicke dir Kassandra, sobald ich Gelegenheit habe, wieder in meinem See zu schwimmen! Jeden Tag wird es mir nicht erlaubt! Ciao, Robin!"
Puh! Gerade noch geschafft! Sechs mal schlägt die Kirchturmuhr als Robin
durch den Garten läuft.
Papa, Mama und Kai sitzen schon am Küchentisch.
"Hallo, Sohn! Händewaschen, Essen fassen! Beides lohnt sich. Mama hat Pfannkuchen der ‚besonderen Art' gebacken. Die magst du doch so gern."
"Immer! Papa. Ich bin soo hungrig!"
Nach dem Abendbrot bleiben alle noch eine Zeit lang sitzen. Robin gefallen die
abendlichen Gespräche.
"Na, Münchhausen", sagt Kai später zu Robin. "Wie ist dein erster Ferientag so gelaufen? He, mach nicht so ein Gesicht! Münchhausen genannt zu werden, kann auch eine Ehre sein!"
Robin ärgert sich nicht über Kai. Münchhausen erinnert ihn an die kleine Notlüge von heute morgen. Freundlich lächelt der kleine den großen Bruder an.
"Schön war der erste Tag. Ich habe lange am Strand gespielt. Ratet mal, wen ich getroffen habe? Ihr werdet es nicht glauben!
Ich habe eine, eine…."
Robin schaut kurz in die erwartungsvollen Gesichter. Sieht Papas leichtes, Kai und Mamas eher nachsichtiges Lächeln.
"Die Nixe werden sie mir nicht abnehmen. Aber Kassandra", überlegt er blitzschnell.
"Also. Kassandra, die Möwe hat mit mir gespielt. Na ja! Nicht so richtig. Aber sie ist immer in meiner Nähe geblieben. Sie hat tatsächlich keine Angst vor mir!"
Bis Mitternacht liegt der Junge wach. Immerzu muss er an die kleine Nixe denken. Er beschließt, niemandem von ihr zu erzählen. Auch nicht Papa!
Jeden Tag spielt Robin am Strand. Die Höhle und den winzigen Teich findet er nicht. Inbrünstig hofft der Junge, Kassandra wieder zu sehen. Vierzehn Tage sind vergangen.
Kein Zeichen von Alana! Nur geträumt? Robin weiß es nicht. Die umher fliegenden Möwen jedoch schaut er sich sehr genau an.
"Ich habe auch Freude an diesen Vögeln", sagt Papa während des abendlichen Strand-Sparziergangs. Robin nickt. In einer von Papas Geschichten hat der Kleine viel über Möwen gelesen.
"Schau mal, Papa! Den habe ich neulich am Strand gefunden. Sieht er nicht wunderschön aus?"
Ein winziger, grüner Stern liegt in der Kinderhand. Stern oder Blüte?
Lange starrt Papa auf das kleine Steinchen. Plötzlich fällt ihm ein Wort aus seiner Kinderzeit ein. Sternenblume!
In Papas Denken drängen sich Erinnerungen. Gerne möchte er sie festhalten. Es gelingt ihm nicht. Die bruchstückhaften Szenen vor seinem inneren Auge haben mit einem Kindheitserlebnis zu tun. Kleine, grüne Sternenblumen spielten eine maßgebliche Rolle.
Grün! Ja! Grüne Augen, langes, glänzendes, rotblondes Haar und eine entzückende kleine Nase, behaftet mit fünf Sommersprossen in gerader Linie. Puzzleteilchen, die sich nicht zu einem Bild fügen wollen!
Unwillig löst sich der Schriftsteller aus den Grübeleien.
"Irgendwann wird mir dieses Erlebnis wieder einfallen!", tröstet er sich.
Robin wundert sich nie, wenn Papa nicht sofort antwortet. "Geschichtenerzähler leben nicht immer in der Gegenwart", sagt Mama oft.
Endlich schaut der Vater seinen Sohn an.
"Stimmt, Robin! Das Sternchen ist sehr hübsch. Ich glaube, es ist ein Malachit.
In dieser Form habe ich so einen Stein noch nie gesehen. Achte gut auf deinen ungewöhnlichen Schatz!"
Zu gern möchte Robin von Alana erzählen. Doch er bleibt still. Selbst Papa würde in diesem Fall an eine Lüge denken. "Verdrehte Welt. Aus Wahrheit wird Lüge, verstehe ich nicht", denkt der Junge traurig.
Am nächsten Tag regnet es in Strömen. Robin sitzt in seinem Zimmer. Gelangweilt sieht er aus dem Fenster. Wasser, nichts als Wasser! Aber dort! Ein heller Fleck ist in dem Regenvorhang zu sehen, bewegt sich langsam auf das Fenster zu. "Kassandra!", jubelt Robin. "Endlich bist du da!"
Robin saust aus dem Zimmer, läuft direkt in Mamas Arme.
Caro möchte nicht, dass ihr Sohn im Regen spielt.
Doch Robin erinnert seine Mama an die vielen Regenspaziergänge im Frühling.
Glücklich folgt er der dicken Möwe. Merkwürdig! Heute ist der Weg zu den Klippen nicht weit und anstrengend. In kürzester Zeit erreichen die beiden den kleinen See. Seltsamerweise regnet es dort nicht. Wie Kupfer leuchtet Alanas Haar im Sonnenschein. Der strahlende Blick der Nixe verwirrt Robin ein wenig. Plötzlich fühlt er Schmetterlinge im Bauch. Spontan gibt er Alana einen zarten Begrüßungskuss auf die Wange.
Ihr fröhliches Lächeln verscheucht die beginnende Verlegenheit.
"Oh, Robin!", jubelt sie. "Endlich bist du da! Heute werden wir nicht am Strand spielen. Ich habe eine Überraschung für dich! Ach, ich bin so aufgeregt! Meine Eltern haben mir erlaubt, dir unsere Welt zu zeigen. Du willst doch immer noch alles über Nixen wissen, Robin? Schau nicht so ungläubig! Vertraue mir! Du kannst unbesorgt in unser Reich eintauchen. Mein Schutzzauber bewahrt dich vor allen Gefahren.
Gegen Abend bringe ich dich in deine Welt zurück, versprochen!"
Nun ist Robin sehr aufgeregt. Die Aussicht auf ein Unterwasserabenteuer schiebt Zweifel und Ängste beiseite. Vorsichtig gleitet der Junge in das kalte Wasser. Alana legt ihm beide Hände auf den Kopf. Langsam streift sie ihrem Freund einen unsichtbaren Tauchanzug über.
Robin staunt und staunt. Eigenartige Meerestiere. Fische von denen er noch nie gehört hat, schwimmen um ihn herum. Mit einer leichten Handbewegung scheucht Alana sie weg. Zwei riesige Rochen segeln heran.
"Steigt auf, wir sollen euch zum König bringen", wispern sie. Unglaublich schnell jagen sie durch das Wasser.
"So, so, du bist der neue Spielgefährte! Nicht übel. Ich wünsche dir einen schönen Tag in unserem Reich", sagt Alanas Vater freundlich.
"Gib ihm ein Stück Algenkuchen", wendet er sich an seine Frau. "Algenkuchen sind gesund, machen dich stark und schenken dir ein langes Leben, Junge. Wir essen nichts anderes."
"Aber es gibt hier so viele Meerestiere. Fisch ist doch auch sehr gesund", wagt Robin ein zu wenden. Missbilligend zieht die Königin eine Augenbraue hoch. "Neptun! Bewahre! Wir verzehren unsere Untertanen nicht, junger Mann!"
Robin und Alana schwimmen zu den Riesengrotten.
"Ist deine Mutter jetzt sauer auf mich, Alana?"
"Sie ist nicht sauer, nur traurig und voller Angst. Später wirst du verstehen, Robin. Sieh mal! In dieser Grotte leben die Drachen. Furcht erregend sehen sie nicht mehr aus. Im Laufe der Zeit sind sie immer kleiner geworden. Ebenso die Märchengestalten in den anderen Höhlen. Daran sind die Menschen schuld. Sie glauben nicht mehr an Märchen", erklärt die kleine Nixe.
Alana öffnet die Tür zur Werkstatt der Wasserspinnen. Robin sieht Spinnräder ohne Zahl. Millionenfach schlängeln sich weiße Fäden über den Meeresboden, verlieren sich in der Dunkelheit.
"Hier entstehen die Gedanken der Menschen. Die großen und kleinen Schleifen an den Fäden nennen wir Lügen, Robin!"
Gegen Abend bleibt Alana vor einem Glaskasten stehen. In dem Glasbehälter stehen Schuhe. Rote Schuhe! Wie gerne möchte die kleine Nixe diese Schuhe anziehen. Nur ein einziger Mensch müsste sich im Erwachsenenalter an mich erinnern", seufzt sie leise. "Dann könnte ich bis an mein Lebensende Schuhe tragen. Robin nimmt Alanas Hand, schaut sie lange an. Feierlich verspricht er, sie niemals zu vergessen! Zwanzig Jahre später: Ein junges Paar geht am Strand spazieren. Ein älteres Ehepaar schließt sich an. Die Frau hält ein dreijähriges Mädchen an der Hand. Das Kind sieht seiner Mutter sehr ähnlich. Die gleichen grünen Augen, das gleiche rotblonde Haar.
Gemächlich folgen Caroline und Achim ihren Kindern. Achim drückt kurz Carolines Hand und sagt: "Weiß du noch, Caro. So sind wir früher auch immer mit Robin am Strand entlang gelaufen."
Caro nickt. Sie wirkt nachdenklich. Nach einer kleinen Weile deutet sie auf ihre Schwiegertochter und sagt leise: "Ich mag Alana sehr. Sie ist Robins Glück und schon lange auch unsere Freude. Nur eines verstehe ich nicht. Weshalb wünscht sie sich zu jedem Weihnachtsfest rote Schuhe?!"