Es ist früher Abend. In dichten Flocken rieselt der Schnee herab. Lam öffnet spontan das Dachgeschossfenster. Sofort strömt frische kühle Luft hinein. Draußen ist es leise und friedlich, wie stets, wenn der Schnee sanft die müde Erde bedeckt. Von dem Leben auf der Straße kann er kaum etwas wahrnehmen. Sinnend betrachtet Lam die Schneeflocken, die ruhig an ihm vorbeiziehen, und sich unten in der Dunkelheit aufzulösen scheinen. Er streckt ihnen die Hand entgegen, als könne er die zarten Gebilde auffangen, die still auf seiner warmen Haut schmelzen. Ein Lächeln verzaubert sekundenlang sein klares Gesicht, das von tiefdunklen Augen beherrscht wird. Seine Augen blicken viel zu ernst für einen 12-jährigen Jungen. Lam hat Dinge erlebt, über die er mit niemandem spricht, die aber in seiner Gedankenwelt allgegenwärtig sind. Sie ruhen wie Schatten auf seiner Seele, und am liebsten würde er sie fortwischen - wenn das möglich wäre.
Gerade wieder entstehen vor seinem inneren Auge Bilder, die sich in schneller Abfolge aneinanderreihen wie die Schneeflocken dort draußen - erst sanft, dann wirbelnd immer schneller. Er schluckt und denkt an Afrika. An den Sudan, seine Heimat. Das Leben dort - Angst und Schrecken. Leben? "Warum?" fragt er sich, und sein Herz krampft sich schmerzhaft zusammen, "Warum lebe ich? Warum nicht sie? Es ging so schnell..." Er fährt sich mit der Hand über die Augen, als wolle er einen Schleier fortziehen. Da sieht er es wieder vor sich, sein kleines Dorf am braunen Nil. Runde kühle Lehmhütten mit spitzen Strohdächern, umgeben von hohen Bäumen und eingebettet in ein grünes saftiges Tal, auf dem weiße Rinder grasen, der einzige Reichtum der kleinen Gemeinschaft. Doch die Angst geht um, die Angst vor den Soldaten. Eines Tages - Papa ist gerade weg zum Markt, um eine Kuh zu kaufen - geschieht es. SIE kommen von allen Seiten. Es sind so viele! Er stöhnt auf, denn dieses beklemmende Gefühl ist wieder da. Lam spürt sie wieder, diese lähmende Angst, diese Atemlosigkeit. Wild blicken sie um sich, in den Fäusten lange Messer und Gewehre. Hassverzehrte Gesichter, nein Fratzen, die Tod atmen. Lam steht da, hypnotisiert, unfähig sich von der Stelle zu rühren. Er hat das Gefühl, als seien seine Füße festgeschraubt. Untrennbar mit dem Boden, als haben sie Wurzeln in die Erde geschlagen. Eine Frau schreit entsetzt auf und reißt ihr Baby aus dem Sand, wo es gerade eben noch sorglos spielte. Ein Schuss ... Die Frau zuckt zusammen, den Mund geöffnet zu einem stummen Schrei. Sie sinkt zeitlupengleich in den Staub, die kleine Ada noch in den Armen. Ein Soldat packt Ada, schleudert sie in die Luft. Sie fällt wie ein Stein zu Boden. Ein dumpfer Klatsch. Da liegt Ada, die Glieder seltsam verrenkt. wie eine zerbrochene Puppe. Bewegungslos. Lam starrt mit weit aufgerissenen Augen auf das kleine Bündel. Vorhin hat er sie noch im Arm gehalten. Ada hat gelacht, ihm jauchzend die Arme entgegengestreckt. Er atmet flach: "Das ist ein böser Traum! Lass mich aufwachen ... bitte, bitte, lass mich aufwachen!" schreit tief eine Stimme in ihm.
Grausames Grölen aus heiserer Kehle. Sein Blut rauscht in den Ohren, wie ein wilder Fluss, übertönt nur von trunkenem Gebrüll: "Verdammtes Dreckspack! Euch werden wir es zeigen!" Seine Kopfhaut kribbelt, als wolle sie sich vom Schädel lösen. Ein paar Männer entzünden Lunten und werfen sie auf die Dächer der Hütten. Augenblicklich schlagen Flammen aus dem trockenen Stroh. Überlaut vernimmt er das Prasseln. Sein ganzer Kopf prasselt, wie eine defekte Maschine, unfähig zu funktionieren. Schüsse knallen, es riecht nach Blut und Tod. Staubwolken tauchen alles in ein verschwommenes Licht. Menschen rennen, schreien, sinken zu Boden wie Halme, die der Wind knickte. Lam kennt sie alle. Vertraute Menschen. Übrig bleiben leblose Körper, deren Namen der Wind weghaucht, die keiner mehr beweint, weil niemand mehr da ist. Plötzlich schreit jemand, schreit, als wolle er sich die Seele aus dem Leib brüllen. Lam bekommt keine Luft mehr. Er ist es selbst, der so schreit, wie ein verwundetes Tier. Blankes Entsetzen hat sein Gesicht entstellt. Die Augen wollen ihm aus dem Kopf quellen. Atemlos jappst er nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. Arme umfangen ihn, schützend. Mama, sie ist da, presst ihn fest an ihren Körper. "Mama ..." Da stürmt ein Riese auf sie zu, in der Faust ein langes Messer, und brüllt: "Aus dem Weg, Weib, gib mir den Jungen!" Der Hüne wirbelt das Messer wild hin und her, als wäre es ein leichter Hirtenstock. Mama weicht keinen Zentimeter. Sie zittert so sehr, dass er kleine Stromstöße verspürt, aber sie umschlingt ihn weiter, stellt sich vor ihn. Da holt das Ungeheuer heftig aus und sticht... sticht einfach zu. "Maaama ...!!!" Er kann ihren Namen nur hauchen, seine Stimme versagt. Blut sprudelt ... quillt wie ein roter Bach aus ihrem Leib und trägt ihr Leben fort. Lam sinkt auf die Knie. Die trockene Erde kann den Fluss nicht aufsaugen, bildet einen See, einen Blutsee. Lam keucht. Hilfe ... Helft doch ... Ein letzter gebrochener Blick aus Mamas lieben Augen, ein Abschiedsgruß. Lam riecht den Schweiß des anderen. Scharf dringt er ihm in die Nase. Lam würgt, erbricht sich. Das Entsetzen raubt ihm fast den Verstand. Roh packt ihn der Riese und schlägt ihm hart ins Gesicht. Er spürt Nasses aus seiner Nase laufen. Aber er fühlt keinen körperlichen Schmerz, als stehe er neben sich.
SIE packen ihn, sie nehmen ihn mit. Lam kann kaum Schritt halten, er strauchelt. Ein derber Tritt in den Rücken: "Hundesohn, soll ich Dich abknallen? Wenn Du liegen bleibst, mache ich Dich kalt!" krächzt die grausame Stimme hinter ihm. Benommen vom Schmerz rappelt Lam sich auf. Er spürt jeden einzelnen Knochen. Seine Bewegungen werden automatisch. So läuft er blindlings neben ihnen über Felder und Steppen, durch Gestrüpp und versteckten Dschungelpfaden. An seinen Füßen bilden sich Blasen und sein Knie blutet. Seine Kleidung ist zerfetzt. Aber er läuft und läuft, er läuft um sein Leben. Das Lager. Wie und wann sie es erreichten - er weiß es nicht mehr. Man reicht ihm Yamsbrei. Die verbeulte Metallschüssel starrt vor Schmutz und der Brei ist Ekel erregend grau. "Wenn Du leben willst, dann friss!" brüllt man ihm ins Ohr. Lam hat Hunger, doch er bringt nichts herunter, sondern sinkt wie ein Stein zu Boden, wo er wie betäubt liegen bleibt. Am nächsten Tag wird er unsanft aus einem gnädigen Halbschlaf gerüttelt. Eine harte Hand hat ihn gepackt. Es ist wieder der Riese. "He, Du Balg, steh auf! Jetzt lernst Du Deine Braut kennen!" dröhnt seine höhnische Stimme. Er spürt jeden Knochen im Leibe, fühlt sich wie eine willenlose Gliederpuppe. Derb reißt ihn der Pockennarbige mit einer Hand empor, die andere Hand umkrampft ein Gewehr. Zusammengekniffene Augen mustern ihn verächtlich. "Was bist Du denn für magerer Stock? So - jetzt pass gut auf", knurrt der Mann. Was nun kommt, ist so furchtbar, dass Lam sich sehnlich wünscht, er wäre tot wie Mama. Tagtäglich muss er nun lernen, diese Waffe zu handhaben, sie auseinander nehmen - und was ihm fast das Herz zerreißt - sie zu benutzen. Sie ist so schwer. Lam kann sie kaum halten. Wenn seine Hände ermüden, gibt es Schläge mit der Knute, einer kurzen Peitsche, die blutige Striemen auf seiner Haut hinterlässt. Das brennt wie Feuer. Schreit Lam, legt dieser Teufel nochmals nach und verpasst ihm einen weiteren Schlag. So lernt er, seinen Schmerz zu beherrschen und nicht laut hinauszuschreien. Passt er nicht gut auf, lassen sie ihn hungern. Mittlerweile isst Lam das Yams, weil der Hunger seinen Magen aushöhlt und weh tut. Ob er will oder nicht: Er ist Soldat - Kindersoldat - einer von DENEN, denn er muss töten wie SIE. Lam gibt ihnen niemals Namen, auch dann nicht, als er ihre Namen kennt. Sie haben ihm alles geraubt, was ihm wichtig war, sein kleines Zuhause, seine Mutter, ihre Liebe, die Geborgenheit der Familie...
Zarte Schneeflocken schweben an ihm vorbei. Doch seine Augen bleiben weiter nach innen gerichtet, nehmen sie kaum wahr. Er sieht das ehemalige Lager klar und deutlich vor sich, als habe er es soeben verlassen. Ein paar abgewrackte farblose Wellblechhütten, in denen es so stickig ist, dass einem der Atem stockt. Rostiger Stacheldraht wie ein Schutzwall um den Lagerplatz gezogen gegen wilde Tiere und Menschen. Keiner darf ungesehen hinein, keiner hinaus. Die Erinnerung, die wie ein schweres dunkles Tuch seine Seele verhüllt, treibt Lam Tränen in die Augen. Jede Nacht überfällt ihn im Lager der gleiche bleierne Schlaf und morgens erwacht er mit Grausen. Niemand ist da, der ihn tröstend in die Arme nimmt, niemand, mit dem er über sein Leid sprechen kann, niemand, der ihm die schrecklichen Träume verscheucht. Er kapselt sich ab, schafft sich seine eigene Welt, schlüpft wie eine Raupe in einen Kokon. Und mittendrin ein Fünkchen, ein winziges Fünkchen Hoffnung, das er in seinem Herzen bewahrt wie eine kostbare Blume. Die Tage vergehen, die Wochen, die Monate...
Plötzlich steht er eines Nachts vor ihm. Müde, mager - aber doch Papa. Fest hält er ihn im Arm. Lam lächelt leise, als er an damals denkt. Papa hat ihn endlich, endlich gefunden. Er hat ihn nie vergessen, hat immer an ihn gedacht. Welch eine Freude! Sechs Monate hat er ihn gesucht - so erzählt er später - ist von Lager zu Lager geirrt, bis er ihn endlich entdeckte. Sie verlieren keine Zeit. Noch in der gleichen Nacht schleichen sie sich heimlich davon. Papa hat eine Bresche gefunden. Gemeinsam schlängeln sie sich hindurch. Die Angst, von den Soldaten eingeholt zu werden, lässt Flügel an ihren Füßen wachsen. Der Dschungel schläft nicht. In der grauen Finsternis scheinen Bäume und Büsche sich in lebendige Wesen zu wandeln, die sie mit ihren Zweigen halten und nicht freigeben wollen. Die Rufe der Tiere klingen in der Dunkelheit bedrohlich. Sie laufen Hand in Hand, sie haben ihren Takt gefunden. 1..2..1..2.. 'Wie lieb habe ich ihn doch', denkt er still bei sich. Gegen Morgen rasten sie am Rande eines Dorfes. Niemand darf sie sehen. Die Menschen sind arm und könnten sie für ein paar Piaster verraten. 'Schau nur, welch ein Glück. Dort weiden ein paar Ziegen.' Sie legen sich darunter und melken sich die Milch direkt in den Mund. Wie köstlich sie mundet, wie sie die müden Glieder wieder kräftigt.
Ja, so beginnt ihre lange Flucht. Zwei Heimatlose auf der Suche nach einer neuen Bleibe. Wohin sie auch gehen, begegnet ihnen Hunger und Leid, ist die Erde verbrannt, beherrschen Angst und Tod die Menschen. Papa fasst einen Entschluss: "Wir verlassen unsere Heimat und gehen über das Meer, dorthin wo Frieden herrscht - nach Europa." - Lam runzelt die Stirn. Das war gar nicht so einfach. Er denkt an den beschwerlichen Weg, an die abenteuerliche Flucht. Das Geld für die Fluchthelfer musste erst einmal verdient werden. Sie begegnen Menschen, die ihnen so manchen Ratschlag erteilen: "Wenn in Deutschland ein Mensch Asyl begehrt, darf man ihn nicht zurückweisen, und er muss aufgenommen werden." oder "Deutschland ist ein wohlhabendes Land, und wenn ihr fleißig seid, könnt ihr dort gut leben."
So geschieht es tatsächlich nach mehr als sieben Monaten, als Papa und er deutschen Boden betreten. Mit dem Wort "Asyl" erhalten sie erst einmal eine Aufnahme, aber längst keine Erlaubnis, hier frei zu leben. Der Beamte stellt ihnen eine Duldung aus und weist sie in ein Lager ein. Wieder ein Lager. Doch hier kann man sich frei bewegen. Nur die Stadt dürfen sie nicht verlassen. "Das ist strafbar, solange euer Aufenthalt nicht gewiss ist", hat der Beamte gesagt. In dem Lager leben Menschen aus den verschiedensten Ländern. Alle reden in unterschiedlichen Sprachen. Oft gibt es Streit zwischen den verschiedenen Gruppen, denn jeder hat auch seine eigene Kultur und will sie unbedingt durchsetzen. Papa bemüht sich, so schnell wie möglich, hier fort zu kommen, eine kleine Wohnung zu finden. Er hat Erfolg. Seit ein paar Monaten lebt er mit Papa in der Unterstadt in einer alten Mietskaserne. Der Vermieter hat nicht viele Fragen gestellt. Ihn interessiert es nicht, wer in sein abgetakeltes Haus zieht. Er will nur sein Geld ...
Die Schneeflocken fallen dichter. Das alte schäbige Haus wirkt jetzt im Schneetreiben fast heiter. Lam trägt seinen dicken Pulli. Er atmet die frische Winterluft tief ein, scheint die Kälte gar nicht zu spüren. Die Dachwohnung, in der sie wohnen, ist winzig aber sie wurde sein Zuhause. Die alten Holzstufen sind ausgetreten und knarren bei jedem Schritt. Im Treppenhaus riecht es allerdings immer muffig und die Gerüche teilen dem Besucher mit, wer gerade was kocht. Manchmal geht es hier hoch her, denn hier leben Menschen unterschiedlichster Kulturen. Viele sind arbeitslos. Manche trinken, und mitunter gibt es Reibereien, aber sie werden in Ruhe gelassen. Niemand fragt hier, was der andere macht. Papa arbeitet seit einiger Zeit heimlich in einer Spedition. Heimlich, weil er keine Arbeitserlaubnis hat. Papa ist groß und stark und kann nicht tatenlos herumsitzen. Der Chef hat ihn ohne viel Fragerei gern genommen, denn Papa packt kräftig zu. Aber die Sorge, entdeckt zu werden, sitzt ihm gewaltig im Nacken. Wenn die Behörden ihn erwischen, macht er sich strafbar. Papa betet jeden Morgen, bevor er das Haus verlässt, dass sich alles fügen möge. Wenn er erst einmal offiziell einen Job hat, dann ist auch die Aussicht besser, eine Aufenthaltserlaubnis zu erhalten. Zur Normalität zurückzufinden, ist nicht so einfach, wenn man nicht weiß, ob man auch bleiben darf.
Mittlerweile - sie erleben bereits den zweiten Winter in Deutschland - hat sich nichts geändert. Nach wie vor begleitet sie die Furcht auf dem Weg zur Ausländerbehörde. So viele Menschen warten dort, und keiner sieht glücklich aus. Doch die Duldung muss regelmäßig verlängert werden. Im Flur riecht es nach Schweiß und Angst. Nie weiß man, ob der unfreundliche Beamte, der immer überarbeitet und abwesend wirkt, wieder den Stempel unter das Papier setzt. Er hat schon mal gedroht, es nicht zu tun. Lam presst die Lippen zusammen. Jedes Mal atmen sie tief auf, wenn sie die Behörde verlassen. Beim Arbeitsamt hat man sie wieder weggeschickt. "Solange ein Deutscher den Platz einnehmen kann, dürfen Sie keinen Arbeitsplatz belegen!" Der Beamte war nicht ganz so unfreundlich wie die anderen. "Kommen Sie wieder, wenn Sie 4 Jahre hier leben", meint er lakonisch. "Wenn Sie dann noch hier sind, haben Sie eine reelle Chance." Wenn Sie dann noch hier sind ... Die Sorge begleitet sie ständig, eines Tages abgeschoben zu werden, zurück ins Grauen. Aber sie wagen nicht, darüber zu sprechen.
Lam hat inzwischen problemlos Deutsch erlernt, denn er ist fleißig, weil es ihm Spaß macht und er nun alles versteht. Auch Papa hat schnell verstanden, dass sie ohne Sprachkenntnisse hier nicht gut leben können. Darum lernt Papa jeden Abend und quält sich mit den Vokabeln. Ihm fällt es nicht so leicht wie ihm, aber er müht sich durch den Dschungel der fremden Worte hindurch, so gut er kann. Lam lächelt verschmitzt. Nun ist er der Lehrer seines Vaters geworden. Er darf - nein er soll ihn sogar korrigieren - hat Papa gesagt. Lam liebt die Schule, und da ihm das Lernen leicht fällt, saugt er das Wissen wie ein Schwamm in sich auf. Er hat sogar zwei Freunde gefunden, Tom und Micha, mit denen er nach der Schule auf dem Fußballplatz in der Nähe bolzt. Die beiden nennen ihn Asamoah nach ihrem großen Vorbild. Lam muss grinsen. Asamoah, der Koloss. Mit dem hat er nun wirklich keine Ähnlichkeit! Aber er ist ein guter Stürmer. Noch gestern, bevor der erste Schnee fiel, hat er mit seinen Freunden auf dem Fußballplatz trainiert. Im nächsten Sommer finden die Schulspiele statt und sie wollen unbedingt ein Spiel gegen die Parallelklasse gewinnen. Lam lächelt versonnen. Tom und Micha - er liebt seine Freunde, mit denen er jede freie Minute verbringt. Sie verstehen ihn und halten zu ihm, wenn es mal brenzlig ist. Jetzt müssen sie sogar gemeinsam das Krippenspiel in der Schule einstudieren. Micha ist Melchior und Tom ..."
Abrupt wird Lam aus seinen Gedanken gerissen: "Lam! Schließ um Gotteswillen endlich das Fenster!" schreckt ihn der Vater auf und zerreißt damit seine Gedankenkette. Er kommt gerade mit dem dampfenden Abendessen auf dem Tablett aus der Küche. Tatsächlich ist es im Raum eisig kalt geworden. Die Heizung pocht und arbeitet auf Hochtouren. Lam schließt das Fenster und eilt herbei. Besorgt und liebevoll betrachtet ihn der Vater: "Du wirst Dich noch erkälten, Söhnchen!"
Die Schneeflocken wirbeln sachte an die schrägen Scheiben, wo sie langsam schmelzen. Die Tropfen gleiten wie Tränen die Scheiben hinunter, hinterlassen ihre Spuren. Lam hilft seinem Vater, den Tisch zu decken. Die Flucht und die Zeit hier in Deutschland haben ein untrennbares Band zwischen ihnen gewunden.
"Erzähl doch, was gibt's Neues?" fragt Salva freundlich.
"Nächsten Freitag ist der letzte Schultag vor den Weihnachtsferien. Wir führen dann das Krippenspiel in der großen Aula auf."
"Und hat es geklappt? Wirst Du den König spielen?"
"Ja, Papa, die Lehrerin konnte sich zuerst nicht entscheiden, welchen Namen der dunkle König getragen hat. Sie meinte, es sei unterschiedlich, mal Melchior, mal Balthasar und mal Kaspar. Wir sind dann bei Kaspar geblieben."
"Dann bist Du also der dritte König", stellt Salva lächelnd fest. "Hast Du Deine Rolle gut gelernt?"
"Ja", entgegnet Lam etwas einsilbig, denn ihm ist schon etwas mulmig zumute vor seinem ersten Auftritt. 'Lampenfieber', hat seine Lehrerin lächelnd gesagt. Viele Menschen werden erwartet, um sich das Krippenspiel anzusehen. Ja, es soll eine richtig große Weihnachtsfeier in der Schule stattfinden. Der Schulchor hat viele Weihnachtslieder einstudiert, es wird selbstgebackene Plätzchen und Kuchen geben. Schokoladenteller und Kerzen haben die Eltern spendiert. Die Aula wird festlich geschmückt sein. Sogar ein Tannenbaum steht seit gestern dort, und einige Mitschüler sind nun fleißig dabei, ihn mit selbst gebasteltem Christbaumschmuck zu dekorieren. Alle sind schon ganz aufgeregt in ihrer Vorfreude. Aber für Lam ist es mehr als das. Einen König zu spielen, ist schon etwas Besonderes. Einen König aber, der dem kleinen Jesus huldigt, das ist nicht in Worte zu fassen. Schnell wischt er ein Gedankenbild fort, als er an die alte Heimat denkt, wo es so viele Streitereien zwischen Moslems und Christen gibt. Niemand weiß so richtig, warum. Wird sich das je ändern?
Die Tage vergehen im Flug. Am Freitagnachmittag beginnt endlich - von allen sehnsüchtig erwartet - die Weihnachtsfeier. Lam sieht sich begeistert um. Die Menschen strömen in die Aula, die in weihnachtlichem Glanz erstrahlt. Um die zwei großen Eingangstüren hat man grüne Tannengirlanden gewunden und jemand hat Mistelzweige darüber gehängt. An den Wänden hängen Tannenzweige mit Christbaumkugeln. Es duftet nach Tannennadeln und frischem Backwerk. Der große Tannenbaum, der bis an die Decke reicht, steht rechts neben der Bühne, und auf seiner Spitze thront ein goldener Engel, die Arme weit ausgebreitet, als wolle er alle umarmen. Der Baum ist fröhlich und bunt geschmückt. So manches Kind eilt mit roten Wangen herbei, um seinen Eltern zu zeigen, was es dazu beigetragen hat. Die Bühne selbst ist hinter einem schweren roten Vorhang verborgen. Auf dem Vorhang sind Buchstaben aus Goldpapier befestigt: "Fröhliche Weihnachten allen Menschen" steht dort geschrieben. Vor der Bühne sind bereits die Stühle aufgebaut. Im hinteren Bereich Tische mit duftenden Keksen und leckerem Kuchen und vielen Schokofiguren. Aus allen Ecken ertönt fröhliches Geschwätz und Gelächter.
Lam sitzt mit seinem Vater etwas abseits. Mit vor Aufregung fiebernden Augen wartet er auf den Beginn der Feier. Unruhig rutscht er auf seinem Stuhl hin und her. Frau Stolpe, seine Lehrerin, kommt an den Tisch, eine Tasse Kakao in der einen, eine Kaffeetasse in der anderen Hand, die sie Lam und seinem Vater freundlich reicht. "Guten Tag, Herr Abo. Wie schön, Sie zu sehen. Warum setzen Sie sich nicht mit Lam zu den anderen?" fragt sie freundlich. Salva geniert sich ein bisschen, denn sein Deutsch ist noch nicht das Beste. Doch dann lächelt er und antwortet: "Der Junge sehr aufgeregt. Er bisschen muss all'ein sein." Die Lehrerin lächelt: "Okay, dann bis nachher!" Salva beugt sich zu Lam. "Trink Deinen Kakao, Junge. Das ist gut für die Nerven", grinst er.
Die Feier beginnt, deren krönender Abschluss das Krippenspiel sein soll. Gedichte werden vorgetragen, der Schulchor singt, begleitet von dem Musiklehrer auf dem Klavier. Einige Kinder spielen auf der Blockflöte. Die Stimmung ist gelöst und heiter. Fröhlich wird allen Interpreten applaudiert. Lam kann dem Geschehen nur mühsam folgen, denn seine Gedanken sind bei dem König. Er freut sich einerseits auf diese für ihn so wichtige Rolle. Andererseits steigt heiß der Gedanke in ihm auf: "Wenn ich nun vergesse, was ich sagen soll ..." Er schluckt. Nein, er kennt seinen Text. Es ist ja auch nicht so viel, was er sagen muss. Aber es ist sehr wichtig, hat Frau Stolpe vorhin noch zu ihm gesagt. Nun wird es Zeit. Er muss hinter die Bühne in den Umkleideraum, wo schon die anderen auf ihn warten, denn bald beginnt das Spiel. Hastig verabschiedet er sich von seinem Vater, der mit dem Finger seine Stirn berührt. "Viel Glück, Junge!"
Nun sagt Frau Stolpe den Höhepunkt der Feier an: das Krippenspiel. Lam steht hinter dem Vorhang und sein Herz pocht bis zum Halse. Die Mädchen aus seiner Klasse singen 'In dulci jubilo'. Langsam und feierlich öffnet sich der Vorhang. Das Spiel beginnt. Die Kulisse auf der Bühne haben die Jungen der 9. Klasse geschreinert und bemalt, und die Krippe ist ihnen besonders gut gelungen. Lam hat sie gestern noch bewundert. Er möchte auch unbedingt in diesen Werkkurs. Ein Schüler hat die Aufgabe des Erzählers übernommen, um das zu berichten, was man auf der Bühne nicht so gut darstellen kann. Die Tiere des Stalls, der Esel, die Kuh und ein paar Schafe werden auch von seinen Mitschülern gespielt. Lam bemerkt, wie die Zuschauer an den Lippen der Spieler hängen und wieder befällt ihn mit aller Macht das Lampenfieber. "Tief einatmen", hat Papa gesagt. Lam holt tief Luft. Jetzt ist es soweit. Endlich folgt der Auftritt der Heiligen drei Könige. Nacheinander treten Melchior und Balthasar hervor, stellen sich vor die Krippe und sagen ihre Sprüchlein auf. Lam tritt hervor. Nun ist er Kaspar, der dritte König. Er spürt die Stille im Zuschauerraum fast körperlich. Lam steht vor der Krippe und schaut auf die Puppe nieder, die dort auf Stroh gebettet von einem Scheinwerfer angestrahlt wird. Er hat das Gefühl, als drehe sich die ganze Welt um ihn. Oh bitte nicht ... heiß steigt ihm das Blut ins Gesicht. Wo ist sein Text? Er hat ihn vergessen! Er starrt auf die Puppe, die bleich und still im Scheinwerferlicht ruht. Da ... was ist das? Die Puppe bewegt ein Ärmchen, dann ein Beinchen. Er blickt in ihr Gesicht, das plötzlich nicht mehr starr ist. Das Gesicht eines Kindes lächelt ihn an. Ein lebendiges Kind, umgeben von einem strahlenden Lichterkranz, reckt ihm jauchzend die Arme entgegen. Es ist Ada, die kleine Ada aus seinem Dorf! Lebendig vor ihm. Sie blickt ihn liebevoll an. Die leise Unruhe im Zuschauerraum spürt er nicht. Er sieht nur sie. Da kniet er nieder und hebt die Handflächen über das Kind, als wolle er es wärmen, es schützen. Ein unbeschreibliches Gefühl ist in ihm, als wolle er zugleich weinen und lachen. Dann bricht es aus ihm heraus. Wie von selbst formen sich Worte auf seinen Lippen, und seine Stimme klingt ergriffen. Doch es ist nicht der einstudierte Spruch.
"Oh, liebes Jesuskind. Du bist in diese Welt gekommen, um sie vor dem Bösen zu retten. Du bist für alle Menschen dieser Welt gekommen. Dafür danke ich Dir. Du bist selbst ein Kind und hast viel Schlimmes erlebt. Darum kannst Du mich verstehen. Weißt Du, da wo ich herkomme, gibt es so viele Kinder, die sind ganz allein und brauchen Dich. Da gibt es Krieg. Sie haben Hunger und Angst und oft auch keine Eltern mehr. Bitte, bitte lass uns nicht allein in unserer Not ...", so spricht er, und die Worte fließen aus seinem Mund wie Perlen. Wie lange er gesprochen hat, er weiß es nicht. Als er sich erhebt, spürt er ein tiefes Glücksgefühl. Er fühlt sich frei, erlöst aus seinem finsteren Kerker. In der Aula ist es mucksmäuschenstill. Doch das bemerkt er nicht. Er blickt auf die Puppe, die nun wieder starr in der Krippe liegt. Aber das sanfte Lächeln, das nur er Momente lang wahrgenommen hat, ist in seinem Herzen eingeschlossen wie ein kostbarer Schatz. Als das Krippenspiel beendet ist, will der Applaus nicht enden. Es herrscht eine wundersame Stimmung. Frau Stolpe steigt die Treppen zur Bühne hinauf und umarmt jeden Akteur. Lam hält sie besonders innig umfangen. "Das war sehr schön, lieber Lam", flüstert sie ihm gerührt zu.
Spät am Abend, als die Feier beendet ist und er und sein Vater vor die Tür treten, ist die Nacht sternenklar. Der Schnee glitzert im Licht der Sterne und der Straßenlaternen. Da bemerkt Lam einen Stern am Himmel, der alle anderen überstrahlt.
"Papa, schau mal, wie der Stern dort oben leuchtet!" ruft er staunend. "Er ist viel größer als alle anderen. Ist das der Stern von Bethlehem?"
Salva blickt hinauf zum Firmament und eine tiefe Freude berührt sein Herz. Lächelnd legt er den Arm um Lam. "Der Stern von Bethlehem? Das kann ich Dir nicht sagen, mein Sohn. Aber eines weiß ich tief im Herzen, das ist der Stern der Hoffnung."