Es klopft.
"Herrje, wer kommt denn jetzt schon wieder?" Joachim sieht genervt zur Tür. Bereits 14.30 Uhr, utopisch, in einer Stunde in der Kirche zu sein. Er kann sich nur zu gut die enttäuschten Gesichter seiner beiden Jungs vorstellen, wenn er mal wieder ihr Krippenspiel versäumt. Dabei spielen sie bloß Hirten und haben kaum einen Satz zu sagen. Aber hier im Büro hat er eben noch was nachzusehen, zu übertragen, anzugleichen, zu bestellen, denn während der Feiertage geht gar nichts, und der Kunde ist König, und einen Rohrbruch kann man nun mal nicht mit Kaugummi kitten.
Die Tür geht auf. Da steht ein älterer Mann, komplett grau von der Mütze bis zu den Stiefeln. Sogar sein Gesicht sieht straßenasphaltgrau aus. Als hätte ihn jemand durch den Straßenstaub gezogen.
"Nee, bitte jetzt nicht, keine Bettler und Hausierer! Kann ich gerade nicht brauchen! Über-übermorgen von mir aus, aber nicht jetzt!" Joachim hebt abwehrend die Hände.
"Ich will nichts haben. Im Gegenteil. Ich bringe ein Geschenk für Joachim Meyer, der bist du doch?" Der Graue lächelt.
"Ein Geschenk? Für mich?" Joachim betrachtet den Mann genauer. Er wünscht sich gar nichts. Am liebsten sollen die Feiertage schon vorbei sein und er in "seinem" neuen Audi über die Landstraße brausen. Nur gehört der leider noch der Bank.
"Für wen hältst du mich denn?", fragt der Mann in seine Gedanken hinein. Er zieht die buschigen Augenbrauen hoch. "Warum bin ich wohl so dreckig? Fällt der Groschen immer noch nicht? Ich habe mich heute schon durch 784 393 Schornsteine gequält. Und wer macht so was an Weihnachten?"
"Der Weihnachtsmann?" Joachim kommt sich echt blöd vor, während er es ausspricht. Schließlich ist er 46 und nicht sechs.
"Helles Kerlchen", das verrußte Gesicht nickt. "So sehen wir normalerweise bei der Arbeit aus und nicht leuchtendrot gekleidet mit weißem Rauschebart und lackierten Stiefeln. Total kitschig. Ich bin sicher, du hast schon scharenweise Weihnachtsmänner gesehen, du hast sie nur nicht erkannt, überleg mal, einer kann den Job gar nicht schaffen. Wir sind fast eine Million Weihnachtsmänner und trotzdem gibt es noch Erdstriche, die wir nicht abdecken können. Will sagen, du bist glücklich dran. Übrigens, das Geschenk, das ich dir mitgebracht habe, ist etwas, das du am meisten brauchst. Was glaubst du, wird es sein?"
"Ich brauch überhaupt nichts und als Allerletztes brauche ich Besuch von jemandem, der sich als Weihnachtsmann ausgibt! Ich habe nicht ein Quäntchen Zeit übrig für solchen Quatsch!"
"Genau", ruft der Weihnachtsmann, "darum habe ich dir Zeit mitgebracht! Das ist mein Geschenk für dich!"
"Das ist ja ein ganz fauler Witz! Du klaust mir gerade im Moment noch mein letztes bisschen Zeit, futschikato!"
"Wieso hast du danach keine Zeit mehr? Willst du schon sterben?"
"Verschwinde jetzt", schreit Joachim, "ich habe nicht mal Zeit, dir das zu erklären!"
"Willst du die Zeit im Ganzen oder geviertelt?" fährt der Graue unbeirrt fort. "Also, ich kann dir jeden Tag eine Stunde zusätzlich schenken, die nächsten vier Jahre lang. Ich kann dir aber auch an dreieinhalb Tagen zwei zusätzliche Stunden geben oder einen Monat im Jahr verdoppeln. Guck auf die Uhr: Eben war es halb drei. Na, und jetzt auch noch." Er weist auf die Wanduhr und zeigt gleich danach auf Joachims Armbanduhr.
"Uhren können stehenbleiben, das machen die gerne. Das beweist gar nichts!" Joachim lächelt säuerlich. Was gibt er sich immer noch mit diesem Popanz ab!
Der Graue zupft ihn leicht am Ärmel: "Komm, mit ans Fenster und schau auf die Straße. Was siehst du da?" Am liebsten würde Joachim die schmutzige Hand wegschlagen und den ganzen Mann aus dem Zimmer jagen, aber seine Neugier siegt und er guckt auf die Straße hinunter. Da kommt ein Mann entlang mit einem Paket unter dem Arm, er klingelt an einer Haustür, und weil niemand öffnet, legt er das Päckchen auf der Türschwelle ab. Da kommt eine Frau vorbei mit einem kleinen gefleckten Hund an der Leine, der schnüffelt an dem Päckchen und wird von der Frau weitergezogen. Joachim will sich abwenden, doch da kommt wieder der Mann mit dem Päckchen unter dem Arm vorbei, klingelt, legt es auf der Schwelle ab, geht weiter, da kommt die Frau mit dem Hund, der Hund schnüffelt ... Joachim reibt sich die Augen, als derselbe Mann zum dritten Mal unter seinem Fenster vorbeiläuft. Er mustert den grauen Weihnachtsmann, der ihm fast unmerklich zuzwinkert. Seine Gedanken wandern: Soll er die zusätzliche Zeit mit Martina und den Kindern verbringen? Oder lieber im Büro? Oder einfach mal alleine so richtig weit wegfahren, zum Tauchen nach Mauritius oder auf eine Afrikasafari? Oder nur ausschlafen? Jeden Tag ausschlafen?
"Kann ich die Zeit auch sparen?", fragt er begierig.
"Sie muss innerhalb der vier Jahre genutzt werden. Sonst verfällt sie."
Da macht sich eine Idee in ihm breit wie Pfannkuchenteig in der Pfanne.
"Ist die Zeit übertragbar?"
Der Weihnachtsmann runzelt die Stirn. "Na ja, ich schenke sie dir. Also kannst du damit machen, was du willst", antwortet er zögernd. "Prinzipiell ist es möglich. Aber so ein Himmelsgeschenk bekommen nur die, die es ganz nötig brauchen. Du scheinst uns so einer zu sein."
"Schon klar", murmelt Joachim. Er weiß, was er tun wird. Sein Freund Michael hat doch viel zu wenig Zeit für die Familie, ehrlich gesagt kriselt die Ehe deswegen. Wie viel er ihm wohl für die Zeit bezahlen wird? Dann ist der Audi endlich seiner.