Er hat auf Ruhe gehofft. Vergiss es. Lina und Sophia stehen kurz vor einem erneuten Wortgefecht. Sehr besinnliche Weihnachten. Wieso hatte er nicht alles doppelt gekauft? Was für eine herrliche Ruhe hätte dann geherrscht.
Ein Seufzen entfährt seiner Kehle. "Kannst du deine Arbeit nicht einmal für einen Moment vergessen?", murmelt seine Liebste. Seine Antwort bleibt aus. Petra lehnt sich zurück. Einige Augenblicke später war der Streit der beiden Zwillingsschwestern erneut ausgebrochen. Wer darf mit der neuen Barbiepuppe (Ihre Haare wuchsen doch tatsächlich nach! Wie unglaublich!) spielen? "Schau dir unsere Süßen an, wie niedlich!" Oh ja, tatsächlich. Zuckersüß. Und diese Klamotten erst! Rosa T-Shirt, Rosa Jupe, rosa Strümpfe, rosa ... Was nicht alles rosa sein kann!
Das Telefon klingelt. Bitte lass es nicht Oma sein! Auf lange "Ja- mh- ich- auch- Gespräche" hat er kein Bock. Den Hörer ans Ohr war die beste Lösung für ein schnelles Wiederauflegen bei der Erkennung der Quak- Stimme seiner Mutter. "Hier Polizeiposten St. Gallen ..."
"Aber Schatz! Es ist doch Weihnachten, das Fest der Liebe! Kannst du nicht einmal ..." er kommt ihr zuvor. "Nein, die brauchen mich man! Ich bin Polizeiarzt!" Dieser treuherzige Hundeblick! Aber mit dem kann sie mich nicht mehr umstimmen! Wer ist den der Geldverdiener in dieser Familie? Wer stopft den kleinen Bengeln das Maul? Wer? Aber von all dem getraut sich der Vater nichts zu äußern. Sie ist ihm wichtig, seine Familie. Beschwichtigung war angesagt. Seine Worte versprechen ein gemeinsames Wochenende am Bodensee. Ruhe. "Du glaubst nicht daran, oder?", wirft sie ihm traurig vor. "Sicher, wir gehen an den Bodensee, Pedalofahren oder so ..." Ihr bedauernder Blick trifft ihn mitten ins Herz. "Andere Familien unternehmen jedes Wochenende etwas gemeinsam", lautet der vorwurfsvolle Satz, mit dem sie die Haustür langsam zumacht.
"Hey endlich man! Wo hast du gesteckt?" Von weitem erkennt er die Stimme seines besten Kumpels und Seelenverwandten Martin. "Meine Frau ..." "Schon klar! Hast wohl Stress zu Hause? Du kannst dir ja vorstellen wie's bei mir war, der blanke Horror!", keucht Martin. Martin hat fünf Kinder. Als sie eine Weile gegangen sind, will er ein wenig mehr vom anstehenden Fall wissen. "Na ja. Es war nicht viel, was wir über ihn herausgefunden haben. Er war ein Drogensüchtiger. Hat wohl ne verseuchte Spritze erwischt, jedenfalls war das Heroin rein. Haben uns die Laboranten bestätigt." Georg zögert. " Du kennst wohl nicht zufällig seinen Namen?" Sein verwunderter Blick zögert seine Antwort nicht hinaus: "Er hieß Roger. Roger Heinz." Es sitzt. Ein Schlag in die Magengegend. Der Seitenblick auf Georg veranlasst Martin zur Frage, ob er ihn gekannt hatte. "Kennen ist gut. Er hatte täglich frische Spritzen bei mir bezogen, du weißt ja, dass ich ..." "Ja, ist mir bekannt, ich bin schließlich auch bei der Polizei." Seit drei Jahren gab es dort die Gratisspritzenabgabe. "Na ja ... wir sprachen manchmal miteinander, er hatte früher eine Modelleisenbahn gehabt, wie ich ... ", fügt er auf den interessierten Blick seines Kumpels dazu. Eine starke Brise ging, beide fangen an zu schlottern. Die von der Nacht verhüllten, renovationsdürftigen Häuser bilden einen großen Kontrast zum Neuschnee. "Wo genau ist es?" -"Nicht mehr weit, gleich um die Ecke. Auf der öffentlichen Toilette."
Georg begann zu zittern, sein Herz rast. Er konnte seine übliche seelische Mauer gegenüber einem Toten nicht aufrecht halten. Dieses Mal war es anders. Ein Freund. Und alles, alles deshalb, weil er eine verseuchte Spritze benutzt hat. Schuldgefühle überkommen ihn. Wieso war er heute nicht bei der Arbeit gewesen? Es wäre nicht passiert! Alles meine Schuld. Es wäre alles wie sonst gewesen. Doch nun war erneut ein Stern am Himmel erloschen. Nach seiner Schwester, nach seinem Vater, nach seiner ersten Frau. An ihrer Stelle war nichts geblieben, einzig ein schwarzes Loch in seiner Seele.
Er erinnert sich an gestern. Neun Uhr. Roger stiess wie immer ohne zu klopfen die Tür auf. Erbärmlich sah er aus, eine Art ausgegilbte Fotografie seiner Selbst. Erst 30. An den Falten in seinem Gesicht konnte man ablesen, was er alles durchgemacht hatte. Es tat manchmal gut zu wissen, dass man nicht das schlechteste Leben durchlaufen hat. Es tat gut zu wissen, dass es jemanden gibt dem es noch jämmerlicher ergangen war. Jemand der trotz allem noch nicht den Verstand verloren hatte. Eine gute Aussicht.
Er erkundigte sich bei Roger, was er an Weihnachten mache. Nichts. Weihnachten sei für ihn schon lange vorbei. Kinderkram. Dann die Rückfrage: "Und du?" "Ich? Ich werde mit meiner Familie feiern." Roger schaute ihn aus seinen gelblich gefärbten Augen an: "Tönt nicht sehr glücklich." Stille. Dann räuspert er sich: "Wenn ich du wäre, wäre ich zufrieden." Das bedrückte Georg.
Das Klohaus taucht auf. Von weitem schon sah er die Polizeiwagen. Das kalte Halogenlicht leuchtet aus dem WC-Bunker. Georg zieht die Luft ein. Eisig. Durch die Sirenen angezogen, waren auch ein paar Anwohner aufgetaucht. Der Polizeiarzt und sein Kollege steuern auf den Unfallort zu. Georg lässt seinen Kumpel vor ihm eintreten. Das grünliche Licht bescheint die Glatze seines Freundes. Das Gleichgewicht verlässt ihn, vor seinen Augen tauchten irre Farbspiele auf. Es wird ihm schlecht. Er fällt. Er fällt in seinen Sternenhimmel. Inständig bat er um einen ewigen Aufenthalt in diesem Lichterparadies ...