Die Älteren werden sich noch an die Weihnachtsfeste ihrer Kindheit erinnern. Es ging noch viel romantischer zu, meine ich. Wir Kinder glaubten noch an den Weihnachtsmann, oder wollten zumindest an ihn glauben. Und es war alles noch viel feierlicher und geheimnisvoller als heutzutage. An Geschenken gab es meist etwas Praktisches, was man ohnehin brauchte, etwa einen Pullover, ein paar Fäustlinge, eine neue Schulmappe oder einen Wintermantel. So war es nicht verwunderlich, dass für uns Kinder im Mittelpunkt des Festes der "Bunte Teller" stand.
Schon in der Adventszeit begann es zu duften in der Küche nach Mandeln, karamelliertem Zucker und zerlassener Butter. Oma und Mutti standen oft stundenlang in der von Puderzucker und Mehl bestaubten Küche, und wir Kinder durften mithelfen beim Ausrollen des süßen Teiges und beim Ausstechen der Plätzchenformen aus der gewalzten Teigmasse. Dabei wussten wir es mit stillschweigender Duldung von Oma und Mutti stets so einzurichten, dass möglichst viel Teigmasse unverarbeitet blieb, die dann heimlich, wie wir glaubten, in unsere Münder wanderte.
Die in bunten Blechbüchsen bis zum Fest aufbewahrten Plätzchen, natürlich noch reichlich verziert mit Schokolade, Zuckerguss oder Liebesperlen kamen dann neben einigen Zugaben, wie Äpfel, Orange oder Banane, auf den "Bunten Teller", der zumindest während der Feiertage ständiger Anlaufpunkt für uns Kinder war.
Das alles hat sich weiß Gott geändert. Schon zu Ende der Herbstferien beginnen die Kaufhäuser ihre Sortimente auf Weihnachten umzustellen und spätestens ab Sankt Martin glaubt man, Heiligabend stehe vor der Tür. In den Regalen der Läden reihen sich Weihnachtsmänner und Engel aus Schokolade und Rauschgold in allen Formen und Farben nebeneinander. Die Gänge der Supermärkte, für den normalen Einkauf ohnehin schon eng genug, sind vollgestellt von mit Süßigkeiten gefüllten Paletten, so dass die Bounties, Mon Cheries, After Eights und was nicht alles fast schon von alleine in die Einkaufswagen fallen. Und aus den Lautsprechern kämpft "Stille Nacht" hoffnungslos gegen den lauten Trubel der vorweihnachtlichen Einkaufsorgie an.
Angesichts des selbstverständlich gewordenen Überangebots von Süßigkeiten sind natürlich auch der gute alte "Bunte Teller", und damit das Plätzchenbacken, weitgehend auf der Strecke geblieben.
In manchen Familien jedoch, wo es noch eine Oma "alten Stils" gibt, ist die Tradition des Plätzchenbackens noch erhalten geblieben, so auch in meiner Familie. Warum das allerdings so ist, bedarf einer Erklärung.
Unsere Oma, das heißt die Mutter meiner Frau, stammt aus einer bäuerlichen Familie im Fränkischen. Zwar hatte sie schon als junge Frau den elterlichen Hof verlassen und war in das Stadtbürgertum getreten; aber viele der ländlichen alten Sitten und Gebräuche, darunter das Knödelmachen und Plätzchenbacken, hat sie nie abgelegt. Oma hat trotz ihrer kurzen Ehe, ihr Mann war im Krieg gefallen, vier Kinder zur Welt gebracht, die ihrerseits recht fruchtbare Verbindungen eingegangen sind, so dass sie heute neun Enkel und sechs Urenkel vorweisen kann.
Natürlich zählt es seit Jahren zu Omas Gepflogenheiten, die Familie oder besser, die Familien zu Weihnachten mit selbstgebackenen Plätzchen zu versorgen. Die sich ändernden Zeiten und Gewohnheiten um das Weihnachtsfest sind indes auch an Omas Nachkommen nicht vorübergegangen, so dass die "Nachfrage" nach Omas Plätzchen von Jahr zu Jahr nachließ und manche Stücke der festlichen Backkunst in Blechbüchsen so stark austrocknen und verkrümeln, dass sie, nach Monaten auch steinhart geworden, nicht einmal mehr zum Stippen in den sommerlichen Nachmittagskaffee taugen.
Es überraschte mich auch nicht, als mir Oma vor einiger Zeit mal gestand, dass ihr das alljährliche Plätzchenbacken langsam über den Kopf wachse, da die Familie doch recht groß geworden sei. Auch sei sie nun nicht mehr die Jüngste, so dass sie das Plätzchenbacken am liebsten einstellen würde. Ich wollte ihr schon frohlockend beipflichten, als sie mir zuvorkam.
"Aber weißt Du", sagte sie, "wenn ich mir dann die enttäuschten Gesichter meiner Enkel und der ganz Kleinen vorstelle, dass von ihrer Omi keine Plätzchen gekommen sind, zerreißt es mir das Herz."
"Na ja", versuchte ich den Strohhalm zu ergreifen, "Du hast ja nun wirklich genug getan für uns alle, und die Kinder werden doch heute sowieso überschüttet mit Süßigkeiten und haben mit dem Gewicht zu kämpfen. Denk doch auch mal an Dich."
Offensichtlich aber hatte Oma eine solche Antwort von mir nicht erwartet. Ganz im Gegenteil, wie ich gleich erfahren sollte.
"Papperlapp", fegte sie meinen Einwand vom Tisch, "was es heutzutage an Süßigkeiten zu kaufen gibt, ist Fabrikware, 08/15 und ohne Herz gemacht. Da sind Omas Plätzchen doch ganz was anderes."
Ich gab auf, obwohl ich mich an ein Gespräch mit meinem jüngeren Sohn erinnerte.
"Papa", hatte er gesagt, "meinst du dass Oma dieses Jahr wieder Plätzchen schickt und uns gar zu Weihnachten, wenn sie zu Besuch kommt, auch noch welche mitbringt?"
"Ich fürchte ja, mein Sohn. Du weißt ja, wie sehr sie sich freut, uns alle mit ihren Plätzchen beglücken zu können. Und auch ihr dankt ihr immer so überschwänglich, dass sie gar nicht auf den Gedanken kommt, ihr wolltet auf die Plätzchen verzichten. Vielleicht haltet ihr euch mit eueren Dankbarkeitsbekundungen in Zukunft ein bisschen zurück."
"Stimmt schon, aber wir wollen Oma doch nicht wehtun. Sie wäre doch todtraurig, wenn wir ihr sagen würden, dass wir die Plätzchen nicht mehr wollen. Mit Vetter Moritz in München habe ich mich neulich auch über Omas Plätzchenorgie unterhalten. Er ist der gleichen Meinung, wie auch die anderen. Aber wie bringen wir Oma das bei, ohne sie zu verletzen."
"Das ist ja gerade das Problem", räumte ich ein, "am Besten, wir lassen alles so wie es ist. Mit der Zeit renkt sich das sicher ein."
"Du wirst wohl recht haben", Papa, " einen Großteil der Plätzchen verschenken wir sowieso schon."
Oma hat Ende August Geburtstag, zu dem sich traditionell die ganze Familie in dem mittelfränkischen Ort einfindet, in dem Oma wohnt. Nicht ohne Koketterie kam Oma auf ihre Plätzchen zu sprechen, an die sie bereits jetzt schon mit Grausen denke. Natürlich wollte sie lediglich empörten Protest der Familie provozieren. Die herumstehenden Enkel verstanden es indes nicht, die Gelegenheit beim Schopfe zu packen und Oma im eigenen Netz zu fangen. Im Gegenteil.
"Aber Omi", hörte ich Enkel Moritz schmeicheln, "das kannst Du uns doch nicht antun. Jedes Jahr warten wir auf Deine Plätzchen. Wir können uns doch Weihnachten ohne Deine Plätzchen gar nicht vorstellen. Am liebsten wäre es uns, wenn wir schon in der Adventszeit Plätzchen hätten. Das ist doch die eigentliche Kaffeezeit, zu der Plätzchen am besten passen."
Die umstehenden Enkel pflichteten bei, überhaupt nicht ahnend, welche Lawine Moritz soeben losgetreten hatte.
Im September, auf der Rückreise von unserem Urlaub, machten wir Station bei Oma. Wie immer nutzte ich die Gelegenheit, für sie die größeren Einkäufe, wie Kästen Mineralwasser, Kartoffeln und sonstige Getränke zu erledigen, an denen sie sonst zu schwer zu tragen gehabt hätte. Wie staunte ich, als ich diesmal die Einkaufsliste sah. 10 Pfund Mehl, 3 Pfund Butter, 3 Pfund Zucker, Zimtstangen, ein Säckchen Mandeln, drei Schachteln Liebesperlen und vieles mehr, was man Plätzchenbacken braucht.
"Was soll denn das alles?" fragte ich, "für wen ist denn das?"
"Das brauche ich für die Plätzchen. Hast du nicht gehört, wie sehr sich meine Enkel nach den Plätzchen ihrer Omi sehnen?"
Das duldete keinen Einwand.
Pünktlich in der ersten Adventswoche kamen in den Familien, so auch bei uns, die Plätzchensendungen an. In den Päckchen lag ein Kärtchen.
"Einen schönen Advent für meine Leckermäulchen, auf die nächsten müsst ihr aber bis Weihnachten warten. Euere Omi"
"Da haben wir die Bescherung", sagte meine Frau.
Kurz darauf riefen die Söhne an, ob sie uns ihre Plätzchen vorbeibringen könnten. Von den anderen Omas würden sie zu Weihnachten auch Plätzchen kriegen. Meine Frau hatte schon eine Idee.
"Na bringt sie mal her, ich weiß schon, was wir damit machen."
Am nächsten Tag saßen wir auf einem Berg von 5 Pfund Keksen.
Ich war nun neugierig, was geschehen würde, denn fünf Pfund Plätzchen würden für drei Weihnachten reichen.
Am nächsten Tag erstand meine Frau eine Menge Weihnachtstüten und füllte sie mit Omas Plätzchen. Mit buntem Band verschnürt und eingestecktem Tannenzweig sahen die Tütchen entzückend aus.
"So", sagte meine Frau, nachdem sie mindestens zehn Tüten gefüllt hatte, " die verschenke ich jetzt an meine Freundinnen, Deinen Vetter Jo, an Frau Dr. Dinke und die Nachbarin. Die anderen Tüten bringe ich zur Weihnachtsfeier meiner Tennisdamen mit. Dann bin ich sie los."
"Wen, die Tennisdamen?" versuchte ich krampfhaft witzig zu sein.
Immerhin hatten wir reinen Tisch.
Das währte allerdings nicht lange.
Als meine Frau von der Adventsfeier mit ihren Tennisdamen zurückkam, warf sie eine ganze Menge Tüten auf den Küchentisch. Es waren Weihnachtstüten, teilweise aus Zellophan, mit bunten Schleifen zugebunden und mit Tannengrün geschmückt.
"Was ist denn das?" fragte ich.
"Plätzchen", sagte meine Frau, "Weihnachtsplätzchen, wie du siehst."
"Kannst du mir das mal bitte erklären?"
"Da gibt's gar nichts zu erklären. Die anderen waren genauso schlau wie ich. Die haben nun meine Kekse und ich habe ihre. Basta."
Wenige Tage später lagen zwei Paketchen vor der Tür. Es waren Weihnachtsplätzchen darin. In dem einen lag ein Kärtchen.
"Vielen Dank für die hervorragenden Plätzchen. Anbei einige von meinen selbstgebackenen. Guten Appetit. Ihre Elisabeth Dinke"
Das andere Päckchen konnten wir so identifizieren. Es kam von Julia, die es versteht, wirklich gute Florentiner zu machen. Von der Schwägerin aus Düsseldorf haben wir gerade ein Paket bekommen, das wir neugierig aufgemacht haben. Was war drin? Stimmt.
Unser Gesamtbestand an Plätzchen war inzwischen wieder auf knapp fünf Pfund angewachsen. Und Weihnachten stand vor der Tür, und damit der Besuch von Oma mit weiteren Plätzchen.
"Was machen wir nun mit den Plätzchen, die können wir doch unmöglich aufessen?" fragte ich meine Frau.
"Die bringe ich solange zur Nachbarin, und nach Weihnachten holen wir sie wieder ab."
"Prima Idee."
Im letzten Moment fiel mir aber ein, dass wir ja zumindest noch einen Rest haben müssten, wenn Oma kam. Also füllten wir eine Schale mit Plätzchen, die anderen kamen zur Nachbarin.
Omas erster Blick nach ihrer Ankunft galt den Plätzchen, die unübersehbar auf dem Wohnzimmertisch in der Schale drapiert waren. Ihre Stirn runzelte sich, und zu meinem Schrecken fiel mir ein, dass dies ja nicht Omas Plätzchen waren, sondern die Plätzchen von den Freundinnen.
Es kam knallhart. "Wo sind denn meine Plätzchen? Waren die euch nicht gut genug?"
Meine Frau fing an zu stottern. Ich fiel ihr ins Wort.
"Aber nein, Oma, Deine Plätzchen haben wir schon längst aufgegessen, sodass wir welche nachgekauft haben."
"Na so was. Wie kann man nur gekaufte Plätzchen essen! Wenn Ihr mich angerufen hättet, hätte ich Euch doch noch welche geschickt. Das nächste Mal bekommt Ihr eben mehr, damit Ihr bis Weihnachten reicht. Und Du", sie wandte sich nun mit einem vorwurfsvollen Blick an mich. "Du wolltest mir einreden, dass ich mit dem Plätzchenbacken aufhören soll."