Es war einmal ein schüchterner kleiner Junge, der sich nicht sehr wohl fühlte in seiner Haut. Gerade war er von seinem Lehrer ermahnt worden, da er die Kreidewörter an der großen Schiefertafel nicht vorlesen konnte. Keiner wusste, dass der Junge schwache Augen hatte und dass seine Eltern kein Geld für eine Brille aufbringen konnten. Aber einige Zeit später, nachdem er seine Augenschwäche in der Schule nicht mehr hatte geheim halten können, bekam er eine Brille. Das billige schwarze Gestell und die dicken Gläser machten ihn zur Zielscheibe des Spotts seiner Mitschüler. Auch er selbst fühlte sich durch die Brille entstellt, zumal er sich zuvor eigentlich als recht hübsch empfunden hatte.
Einige Monate später - die Weihnachtstage rückten näher - fragte ihn der Lehrer, ob er nicht Lust habe, in einem Theaterstück die Hauptrolle zu übernehmen. Er solle den Nikolaus spielen, natürlich ohne Brille, denn der Nikolaus habe naturgemäß sehr gute Augen. Der kleine Junge freute sich schon deshalb riesig über das Angebot und sagte strahlend zu.
Sein Lehrer hatte ihm ein Buch gegeben, in dem alle Rollen des Stückes aufgeführt waren und anhand dessen er seinen Text lernen sollte. Er verschlang das Buch förmlich, las begierig Seite um Seite und begeisterte sich an den Sätzen, die er zu sprechen hatte. Als er abends im Bett die letzten Seiten las, begann sein Herz plötzlich zu pochen. Er würde zum Schluss des Stückes von einem Engel geküsst werden! Und wer diesen Engel spielte, das wusste er genau. Es war Gabriela, von der alle Jungen in seiner Klasse schwärmten, und in die auch er heimlich verliebt war. Von diesem Engel geküsst zu werden, davon hatte er schon immer geträumt.
Der Tag der Aufführung im Altenheim nahte, und der Junge gab in den Proben sein Bestes. Aber von dem Kuss in der Schluss-Szene konnte er auch weiterhin nur träumen, denn der Engel verweigerte ihn jedes Mal kichernd und errötend. Der Lehrer ermahnte Gabriela, aber sie ließ sich nicht erweichen und verwies darauf, erst in der Weihnachtsaufführung den Nikolaus küssen zu wollen. All das ängstigte ihn, weil er die Verweigerung einzig und allein auf seine Person bezog. Gleichzeitig steigerte es aber auch seine Vorfreude auf die Premiere, denn da musste der Engel ihn küssen.
Bald war es so weit. Der Bart roch kräftig nach Klebstoff, der Engel glänzte im Kostüm, alle rannten aufgeregt durcheinander und schauten hin und wieder durch einen schmalen Spalt des Vorhangs in den vollbesetzten Saal. Ein Gong ertönte, und das Stück begann.
Für den kleinen Jungen war das Publikum nicht mehr vorhanden, so sehr fieberte und spielte er auf seine Stelle hin. Doch dann geschah das Unglück. Als der ersehnte Augenblick nahte, übersprang er in seiner Aufregung die entscheidende Passage, so dass dem Engel die passenden Stichworte fehlten. Der Kuss fiel aus! Ihm war, als stürzte er in ein tiefes finsteres Loch. Er sprach mechanisch seinen Text zu Ende, verteilte freudlos die Geschenke an die Alten, hörte wie aus weiter Ferne den rauschenden Beifall des Publikums und schlich sich in seine Garderobe. Er riss sich den Bart herunter, zog hastig sein Kostüm aus, streifte sich schnell seine Kleidung über und setzte sich die hässliche Brille auf die Nase. Als er sich im Spiegel erblickte, konnte er die Tränen nicht mehr zurückhalten. Er hatte den Kuss eines Engels verspielt.
Viele Jahre später stand ein junger Mann mitten im Weihnachtstrubel eines riesigen Warenhauses in Paris. Er hielt seinen kleinen Sohn Nicolas auf dem Arm und lauschte melancholisch den Weihnachtsliedern aus den Lautsprechern. Alles um ihn herum wurde plötzlich zu einem euphorischen Tanz des Lebens. Er wollte nichts mehr als das Jetzt; seinen lächelnden Sohn im Arm, überwältigte ihn das Glück des Geschehenlassens. Beide waren eins, beide waren selig.
Hier nun geschah es, dass plötzlich ein strahlender Engel auf sie zutrat, leise etwas flüsterte, was er zunächst nicht verstand, dann seinen Sohn, dann auch ihn küsste, lächelte und genauso geheimnisvoll wieder verschwand, wie er erschienen war.
Und plötzlich verstand er die Worte, die der Engel geflüstert hatte. Es war der Satz, den er als kleiner Junge bei seiner Begegnung mit einem Engel hatte sagen wollen: Nun lasst uns die Menschheit beschenken!