Es gab einst in unserem kleinen Städtchen eine Walfamilie. Es war eine angesehene Familie, denn der Vater Heribert war ein großartiger Lehrer für alle kleinen Walfische in der Elbe. Die drei Walkinder der Familie, Wilbert, Undine und Albert, waren äußerst gut erzogen und machten ihren Eltern große Freude. Wilbert, der jüngste Sohn, konnte mit seinem Blasloch auf dem Kopf außerordentlich hohe Wasserfontänen spritzen. Alle anderen Walkinder waren darauf sehr neidisch. Wilbert war ein wissbegieriger kleiner Waljunge und er war sehr gut in der Schule. Den ganzen Tag über stellte er seinen Eltern Fragen über Fragen. "Wer ..., wie ...., was ...., warum ..., wieso ...", hörte man ihn sagen. Er wollte eben alles ganz genau wissen. Seine Eltern versuchten ihm immer alles zu erklären, doch einige Fragen wussten auch sie nicht zu beantworten. Alle führten ein ruhiges und beschauliches Leben und jeder ging freudig seinem Tagwerk nach.
Eines Tages, es war kurz vor Weihnachten, fragte Wilbert seine Mutter: "Mama, wie feiern eigentlich die Menschen in anderen Ländern Weihnachten? Hier ist das Weihnachtsfest jedes Jahr gleich. Immer sitzen wir vor dem Tannenbaum und singen dieselben Lieder. Das kann einen doch nicht immer glücklich machen!". Mutter Wal war sehr erstaunt über diese Frage und sagte: "Ja, hier ist es jedes Jahr gleich. Aber das ist ja das Schöne daran. Das ist so Brauch. Man kann sich ein ganzes Jahr wieder auf Weihnachten freuen."
Da die Waleltern in ihrem ganzen Leben noch nirgendwo anders gewesen waren als in der Elbe, konnte Mama Ursula ihrem jüngsten Sohn leider nicht viel über andere Länder erzählen. Papa Heribert guckte in seine Bücher und versuchte, Wilbert über die Gebräuche und Sitten in fernen Ländern aufzuklären. Doch das reichte Wilbert nicht, er wurde immer unzufriedener. Und eines Tages beschloss er, in die weite Welt zu schwimmen, um zu sehen, ob es woanders noch ein besseres Weihnachten gäbe. Der Abschied von seiner Familie war schwer und keiner verstand so richtig, warum der kleine Wal in diese ungewisse Welt hinausschwimmen wollte. Alle weinten herzzerreißend und mussten zusehen, wie die Wasserfontäne von Wilbert immer kleiner wurde, je weiter er davonzog. Wilbert jedoch war glücklich und voller Tatendrang.
Er schwamm durch die Elbe, durch die Havel, durch die Spree und durch die Oder bis nach Polen. Und siehe da; es sah in seinem Nachbarland zu Weihnachten ganz anders aus als bei ihm zu Hause. Prächtige Krakauer Krippen, die traditionell aus Pappdeckeln und Stanniol von Hand hergestellt wurden, zierten das ganze Land und waren Mittelpunkt des Weihnachtsgeschehens. Es gab überall Wettbewerbe, bei denen die schönsten byzantinischen Papierkirchen ausgewählt wurden. Und auch in Polen fragte Wilbert alles, was er wissen wollte, und er durfte überall mit dabei sein. Er war dort sehr beliebt. Krippenspiele wurden eingeübt und das Christkind war dort die "Sonne der Gerechtigkeit". Wilbert sah sich alles genau an, spielte und lachte mit den Bewohnern. Doch nach einiger Zeit stellte er auch dort fest: "Irgendetwas fehlt mir immer noch.". Und machte sich erneut auf den Weg in die weite Welt. Alle Leute, die er in Polen kennen gelernt hatte, weinten und winkten und riefen: "Gute Reise, Wilbert! Viel Glück und vergess uns nicht!"
Er durchquerte die Oder und die Ostsee und landete schließlich in Schweden. Seine Augen wurden ganz groß, als er sich umsah, so schön war es dort. Wilbert sagte: "Oh, ist das ein wunderschönes Land! Und dieser herrliche Schnee! Hier kann man richtig Weihnachten feiern.". Ihm wurde so richtig warm ums Herz. Alle Menschen die er dort kennen lernte, alte und junge, lachten und tanzten ausgelassen um den Weihnachtsbaum. Wilbert machte glücklich mit. Auf dem Lande gab es die schöne Tradition, beim Julklapp die Geschenke zu überreichen. Unter lautem Rufen und Lachen wurden sie einfach ins Zimmer geworfen und jeder musste das Geschenk herausfinden, das für ihn bestimmt war. Das war sehr, sehr lustig, auch für den kleinen Wal. Er rief: "Das ist ja fabelhaft, das sollten wir auch in Deutschland machen." Außerdem war es dort in Schweden Brauch, am Weihnachtstage nur neue Kleidungsstücke anzuziehen. Alle machten sich schick, und auch der kleine Weltenbummler sah einfach hinreißend aus in seinem neuen Walanzug. Wilbert fühlte sich dort sehr wohl und alle Menschen waren wirklich nett zu ihm. Doch auch in diesem schönen Land packte ihn das Fernweh. Wieder einmal verabschiedete er sich von seinen Freunden und alle schauten ihm mit Tränen in den Augen hinterher und schluchzten; "Wilbert, du netter Wal, bitte komm bald mal wieder!" Wilbert versprach es ihnen, wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln, und schwamm davon.
Durch den Skagerrak gelangte er in die Nordsee. Er musste sich beeilen, denn es war sehr kalt da im Wasser. Er wollte nach England schwimmen und als er dort ankam, erlebte er ein ganz anderes Weihnachtfest als er es aus der Heimat kannte. Er traf wieder ganz viele nette Menschen und er fand bald gute Freunde. Wilbert staunte sehr, als die boys und girls dort in der Nacht zum 25. Dezember ihre Strümpfe vor den Kamin hängten. Verwundert rief er aus:
"Was ist das denn für ein Brauch? Das hab ich noch nie gesehen, so was gibt es bei uns in Deutschland nicht!" Die Kinder antworteten: "Aber Wilbert, das sind doch die Strümpfe, in die Santa Claus die Geschenke steckt! Er kommt nachts durch den Kamin. Deshalb stellen wir immer etwas zum trinken hin, denn er ist sicher durstig." Das leuchtete dem Waljungen ein und er beschloss, das später auch einmal so zu machen. Die Wohnungen in England waren mit Papiergirlanden bunt geschmückt und das Festmahl mit dem Truthahn und dem brennenden Plumppudding war sehr ungewohnt für einen kleinen Wal wie Wilbert. Alle Kinder und Jugendliche hatten bunte Kostüme an. Sie feierten ausgelassen das Weihnachtsfest. Es war wirklich lustig. Doch auch in diesem "königlichen" Land hielt es Wilbert nicht lange aus. Er war noch immer auf der Suche nach dem wahren Weihnachtsglück. Wieder verabschiedete er sich von seinen traurigen Freunden und versprach, ihnen bald zu schreiben.
Weil er schon ganz müde war vom vielen Feiern und Schwimmen, ließ er sich gemächlich durch den Ärmelkanal treiben und von dort durch den Atlantik und den Golf von Biskaya. Wilbert war sehr lange unterwegs und als er in Spanien ankam, war ein Jahr vergangen. Er sagte ganz überrascht: "Oh, hier ist es aber schön warm! Das ist ja komisch, wir haben doch schon Heiligabend." Die Menschen erzählten ihm, dass es in ihrem Land gar nicht richtig kalt werden würde. Und das Weihnachtsfest wurde nicht am 25. und 26. Dezember begangen, sondern man feierte den Dreikönigstag am 6. Januar. Die Drei Weisen aus dem Morgenland füllten dann die Schuhe der Menschen, die diese unter die Weihnachtsbäume stellten, mit schönen Geschenken. Wal Wilbert staunte über die prächtigen, wundervoll geschmückten Wagen, die durch die Straßen der Stadt fuhren. Alle Menschen waren fröhlich und tanzten miteinander. Das alles war wirklich sehr aufregend und fremd für Wilbert. Doch er fragte sich: "Warum fühle ich nur immer noch so eine große Sehnsucht in meinem Herzen?" Er überlegte lange und da dämmerte es ihm: Er hatte Heimweh! Jawohl, das war es! Die ganze Pracht und Fremdartigkeit, nach der er sich Weihnachten gesehnt hatte, konnte eines nicht ersetzen: Die Liebe seiner Familie und seiner Freunde in seinem Heimatstädtchen. Nichts wärmte sein Herz mehr. Und nichts anderes konnte das gute alte Weihnachtsfest zu Hause mit seinen Traditionen ersetzen. Er war sich jetzt ganz sicher.
Er machte sich geschwind auf den Heimweg, um das nächste Weihnachtsfest mit seiner Familie feiern zu können. War das ein großer Jubel, als er zu Hause ankam! Seine Familie und seine Freunde strahlten vor Freude als sie ihren lieben Wilbert erblickten, der in der Elbe schwamm und vor lauter Glück ganz große Wasserfontänen mit seinem Blasloch spritzte. Er war ein gutes Stück gewachsen in der Zeit, als er unterwegs war. Natürlich wollten sie alles ganz genau wissen, was er erlebt und gesehen hatte, und Wilbert erzählte ihnen von seinen Erlebnissen. Er berichtete sieben Tage und sieben Nächte was ihm widerfahren war. Einige kleine Walfische wurden sogar ein bisschen neidisch. Seine Eltern aber waren stolz auf ihren jüngsten Sohn und freuten sich, dass er den langen Weg zurück nach Hause geschwommen war, nur um wieder bei ihnen zu sein. So wurde es ein wirklich wunderschönes Weihnachtsfest. Wilbert sagte: " Ich weiß jetzt wie es woanders ist. Es war schön und aufregend, doch hier bei euch fühl ich mich am wohlsten!" Seitdem schreibt er allen seinen Freunden in den fernen Ländern jedes Jahr schöne Weihnachtskarten.
So fand Wilbert das, was er in der weiten Welt gesucht hatte, doch zu Hause.