Der qualvolle Schrei durchströmte ihn auf wundervolle Weise. Ihm wurde warm ums Herz, denn er spürte, dass er nicht allein war. Für einen Moment konnte er alles vergessen. Nur noch sie zählte.
Dann aber ließ das Gefühl nach. Die Angst breitete sich wieder aus. Die Angst vor der Einsamkeit. Er wollte nicht allein sein. Kalter Schweiß ließ ihm über den Rücken und er begann zu zittern. Er musste es wieder tun. Nur das würde helfen.
Er setzte an. Beinahe zaghaft. Das Messer drang tiefer ein als beim ersten Mal. Sie schrie und der warme Fluss durchströmte ihn von Neuem. Das war gut. Er stöhnte. Seine Hand fuhr durch ihr seidiges Haar. Wie dankbar er ihr war, dass sie da war. Mehr hatte er sich dieses Jahr nicht gewünscht. Er war ein genügsamer Mensch. Mama hatte ihn so erzogen.
Bei dem Gedanken an Mama kehrte die Kälte zurück. Erneut stach er zu. Ihr Schreien wirkte sofort. Dankbar sah er sie an. Sie war jung und schön. Unverbraucht. Wie er sie auf seinen Wunschzettel gemalt hatte. Wie jedes Jahr hatte er seinen Wunschzettel am Abend vor Nikolaus in einem kleinen Schuh vor die Tür gestellt. Es war wichtig, dass der Schuh klein war. Mama würde sonst schimpfen, weil er wieder so gierig war.
Er wollte nicht an Mama denken. Der Schrei verdrängte sie aus seinen Gedanken. Dieses Jahr hatte er sich ein besonderes Fest bereitet. Die Kerzen an seinem kleinen Baum brannten, er hatte sich das Weihnachtsmenü vom Eismann bringen lassen. - Lustig, Eismann war fast so wie Weihnachtsmann. - Aber vor allem musste er dieses Jahr nicht allein sein. Er durfte nicht daran denken, wie es all die Jahre zuvor gewesen war.
Sie schrie erneut.
Dieses Jahr konnte er das Fest der Liebe endlich einmal wie alle anderen verbringen. Gemeinsam mit einem lieben Menschen, der ihm Freude bereitete und dafür sorgte, dass es ihm gut ging. Wie er sie dafür liebte. Endlich verstand er, warum sie es das Fest der "Liebe" nannten. Er küsste sie. Erst leicht, dann fordernder. Er wollte sie spüren. Fühlen, dass er nicht allein war.
Sie versuchte sich ihm zu entwinden, aber es gelang ihr nicht. Er zog die Seile fester. Sie durfte ihn nicht böse machen. Nicht heute. Nicht sie. Er freute sich doch so über ihre Anwesenheit. Sie sollte sich genauso freuen.
Er steckte ihr einen Keks in den Mund und schenkte ihr Wein nach. Dann holte er das Geschenk, das er ihr gekauft hatte. Er wickelte es für sie aus, sie konnte ihre Hände ja kaum bewegen. Es war eine Kette mit einem kleinen, silbernen Anhänger daran. Er hatte die Form eines Engels. Sein Mund war geöffnet. Er verbreitete die frohe Botschaft.
Als er sie ihr umlegen wollte, zog sie den Kopf zurück.
Er wollte nicht böse werden.
Von einem neuen Schwall Wärme beflügelt, fingerte er den winzigen Verschluss zusammen. Beinahe hätte er es nicht geschafft. Dann hätte sie gelacht. So, wie sie früher immer alle über ihn gelacht hatten.
Sie schrie erneut.
Die Kette stand ihr gut. Sie waren wie für einander geschaffen, der schlanke Hals und das dünne Metall.
Ihr schien sie nicht zu gefallen. Ihre Mundwinkel hingen schlaff nach unten. Ihre Augen waren leer und ausdruckslos. Sie sollte sich freuen. Er wollte, dass sie sich freute. Genauso wie er es über ihr Geschenk tat.
Ihr Schrei war leiser als die anderen. Er stach erneut zu, aber sie wurde nicht wieder lauter.
Er probierte es wieder und wieder. Es klappte nicht. Die Kälte kam zurück. Langsam. Von den Füßen her. Sie wurde schneller. Seine Reaktionen heftiger. Immer schneller und schneller suchte das Messer sein Ziel. Immer unkontrollierter. Aber es klappte nicht. Er wurde immer zorniger. Begann zu heulen. Panisch. Der Angstschweiß machte seine Hände ganz rutschig. Er brannte in seinen Augen. Dann sackte ihr Kopf auf die Schulter. Er wollte es nicht wahr haben. Probierte es weiter. Verzweifelt. Aber es war vorbei. Die Einsamkeit hatte ihn zurück erobert. Sie begann ihn zu lähmen. Er fügte sich. Er kannte das schon. Es war schade, dass es schon vorbei war. Aber immerhin hatte auch er einmal schöne Weihnachten verbracht. Er löschte die Kerzen am Weihnachtsbaum.