Sie springt auf, eilt aus dem Wohnzimmer, reißt die Tür auf und rennt auf die Garage zu. Schnell will sie wieder bei Tisch sitzen und den fröhlichen Gesichtern Gesellschaft leisten. Noch zehn Schritte bis zur Garage. Sie beschleunigt ihren Lauf zu einem Sprint und rutscht das letzte Stück über die spiegelglatte Eisfläche wie auf Schlittschuhen. Ihr rechter Fuß schnellt nach vorne und Emmy fällt rücklings auf den kalten Boden. Vor Schreck erstarrt blicken ihre Augen erstaunt in den Himmel. Einzelne Schneeflocken fallen auf ihr Gesicht.
Langsam richtet sie sich auf, fühlt sich, als wäre sie übers Knie gelegt worden, denn ihr Hintern schmerzt furchtbar. Schritt für Schritt humpelt sie die letzten zwei Meter auf das Garagentor zu, öffnet es wie in Zeitlupe und nicht mit dem gewöhnlichen, energischen Ruck.
Emmy tastet nach dem Lichtschalter. Sie nimmt den verlangten Gegenstand mit ihren kleinen zitternden Fingerchen an sich. Das Kehrblech in der Hand schleicht sie unter drückenden Schmerzen ins Haus zurück.
Sie hält es ihrer Mutter hin. "Hier bitte Mami, da hast du es."
Ihr Gesicht verzieht sich zu einem mühsamen Lächeln. "Ach Emmy, sei so nett und feg' die Krümel schnell beiseite, mein Rücken ist nicht mehr der jüngste."
*
Schneeflocken fliegen durch die Luft. Es ist wieder einmal Winter und die Landschaft kleidet sich weiß. Nichts stört den Tanz der Flocken, denn die Aufregung der Vorweihnachtszeit ist vorbei. Still und andächtig sitzen die Menschen zu Hause bei Kerzenschein und Plätzchen, sprechen von vergangenen Zeiten und loben den Fortschritt der Welt. Der Familienfrieden ist eingekehrt.
Hin und wieder fallen Bemerkungen über die weiße Weihnacht und das Treiben der Schneeflocken. Der Tannenbaum leuchtet hell und die Geschenke liegen unter duftenden Nadeln. Süße Gerüche von Zimt und Nelke breiten sich aus. Züngelnde Kerzenflammen schaffen eine gemütliche Atmosphäre.
Der Streit, der sonst durch das Haus tobt, ist wie weggeblasen. Alles scheint idyllisch. Aber Emmy kann nicht anders, sie muss an den Obdachlosen denken, der immer vor dem Supermarkt steht und nach Geld fragt. Niemand interessiert sich dafür, ob er auch ein schönes Weihnachtsfest hat. Denn das würde die gesegneten Tage verderben. Und die will sich niemand zerstören lassen. Weihnachten ist den Menschen heilig, überlegt das Mädchen, und sie meinen, in dieser Zeit das Recht auf Frieden und Ruhe zu haben.
Emmy sitzt mit ihrer Familie am Tisch. Sie reißt sich von ihren trüben Gedanken los und verschlingt die leckeren Printen ihrer Oma. Die Schokoladentorte wird folgen und das frühreife Kind zufrieden machen. Doch Emmy weiß, dass die lustigen Stunden nicht lange andauern werden.
Plötzlich stupst ihr die Großmutter mit dem Zeigefinger auf die Nase: "Kleine Träumerin, aufwachen!" sagt sie lachend. Der Blick der alten Frau bleibt amüsiert auf dem Nasenrücken des Kindes haften.
Emmys Nase ist immer noch von unzähligen Sommersprossen gezeichnet, auch wenn der Sommer längst vorbei ist.
"Deine süße Stupsnase sieht aus wie ein Sternenhimmel. Jeden Tag. Sie leuchtet unerbittlich, egal wie stark der Sturm auch sein mag."
Niemand weiß, wie lange diese herrliche Ruhe noch anhält. Emmy und Marlene werfen sich verstohlene Blicke zu. Marlene ist Emmys jüngere Schwester. Sie ist elf Jahre und, typisch für ihr Alter, eine neunmalkluge Besserwisserin. Die beiden Schwestern sind unzertrennlich. Marlene gibt sich trotz ihrer kindlichen Weisheit hilfsbereit und offen allen Schandtaten ihrer älteren Schwester hin. Emmy ist zwölf Jahre alt. Der kleine Altersunterschied ist für die Mädchen von keiner großen Bedeutung. Nur dass Emmy sich manchmal ungerecht behandelt fühlt. Als Ältere muss sie der Mutter oft helfen.
Vier weitere Geschwister sitzen um den großen runden Kieferntisch, die alle jünger sind als Emmy. Sie ist das Oberhaupt der Kinder und damit der verantwortungsvolle Helfershelfer der Eltern. Natürlich hat sie niemand gefragt, ob sie das sein wollte, es ist eben einfach so, schon immer.
Marlene ahnt, dass ihre ältere Schwester unter der bedrückenden Atmosphäre des Alltags leidet. Und sie weiß, nur an Weihnachten hat Emmys Gesicht einen Hauch von Fröhlichkeit. Soweit es in der Macht eines elfjährigen Mädchens steht, versucht sie Emmy zu helfen und ihr beizustehen. Doch jetzt ist erst mal Weihnachten, geht es Marlene durch den Kopf, und das ist eine gute Zeit.
Papa und Mama, denkt Emmy, haben stumm einen Waffenstillstand über die Weihnachtstage verhangen. Böse Worte, die auf der Zunge liegen, werden hinuntergeschluckt.
Die Zwölfjährige weiß, dass das anstrengend für sie ist.
Unbarmherzig bereiten sie den nächsten Sturm vor.
"Emmy, kannst du bitte so lieb sein und das Kehrblech aus der Garage holen?"
Von Jennys Kindersitz rieseln unzählige Kuchenkrümel wie Schneeflocken hinunter.
"Ja natürlich Mami, sofort."
Emmy springt auf.
Am Abend hat sie Zeit, um über viele Dinge nachzudenken. Emmy ist ganz alleine in ihrem Zimmer und Ruhe kehrt in ihr aufgewühltes Kinderherz ein. Der Tag war so wunderbar friedlich. Der Mond scheint ins Zimmer und sie liegt mit offenen Augen in ihrem Bett. Oft kann sie nachts nicht schlafen und denkt an den vergangenen Tag.
Diese Nacht ist es jedoch anders.
Emmy muss an die Zukunft denken.
Angst überkommt sie, dass es morgen wieder chaotisch wird, dass wieder Streit und Zorn das Haus regieren. Sie dreht sich auf die Seite, schließt die Augen und versucht die trüben Gedanken beiseite zu schieben. Ein Lächeln huscht über ihre Lippen. Weihnachten ist ein schönes Fest. Wenn doch jeden Tag Weihnachten wäre.
"Emmy, AUFSTEHEN! Oder willst du die restlichen Ferien im Bett verbringen?", ertönt es unverkennbar aus Vaters Mund. "Du kannst deiner Mutter beim Frühstückmachen helfen und später auf die Kleinen aufpassen. Mama und ich müssen doch gleich Onkel Hans und Tante Anni zum Bahnhof fahren. Na los, jetzt aber raus aus den Federn."
Emmy blinzelt verschlafen und schaut auf den Wecker: 8.00 Uhr. Das sind echte Schulferien! Sie huscht schnell ins Bad, um zu duschen. Dort erscheint es Emmy immer so, als könnte sie all ihre Sorgen hinfort spülen. Als würden sie im Abfluss verschwinden und nie wiederkommen.
Das Frühstück ist beendet und auch Weihnachten ist mit all seinen harmonischen Tagen vorbei. Wieso immer so schnell? Die Mutter brüllt, der Vater schreit und Emmy hält sich die Ohren zu.
Abends weint sie leise in ihre Hände hinein. Tränen fallen auf den Boden. Sie verkriecht sich in ihr Bett und schaut die Decke an. Wie schön wäre es, denkt sie, in diesem Blau der Tapete versinken zu können, einfach zu verschwinden.
Die Jahre verstreichen. Alles bleibt gleich. Nur Emmys Leben scheint sich langsam zu verändern. Sie geht jetzt in die zehnte Klasse der Kreislauer-Realschule. Ihre Noten sind durchschnittlich. Bald wird sie ihre Ausbildung als Krankenschwester anfangen, ihr neues Leben. Die Unabhängigkeit rückt mit jedem Tag näher. Endlich werde ich mein eigenes Geld verdienen, denkt Emmy und schaut verträumt zur Tafel, auf der sich wirre Zahlengleichungen verteilen. Ihre Tante hat angeboten, dass Emmy während der Ausbildung bei ihr wohnen könnte, dann sei der Arbeitsweg nicht lang und Emmy würde sich daran gewöhnen, auch ohne ihre Eltern zu leben.
In Gedanken versunken ziehen die letzten Jahre an ihr vorüber. Meine ELTERN, dass weiß Tante Anni, kann ich einfach nicht mehr ertragen, schießt es dem Mädchen durch den Kopf. Wie oft habe ich ihnen in der letzten Zeit gesagt, dass ihre dauernden Streitereien, der familiäre Krieg und besonders der Tonfall ihrer Worte nicht mehr auszuhalten sind. Ihre Reaktion ist lächerlich und peinlich: "Ach Kind, das wirst du doch wohl noch ertragen können. Das hast du doch dein Leben lang mitgemacht und nun soll es auf einmal nicht mehr zu verkraften sein?"
"Aber warum könnt ihr das nicht ändern?", hat Emmy zurück gedonnert, "Warum muss alles so voller Grimm und Ärger sein? Wieso macht ihr mir das Leben schwer? Warum bewahrt ihr mich nicht vor eurem Sturm? Nehmt ihm endlich den Wind aus den Segeln"
Die Zeit vergeht und Emmy geht schon lange nicht mehr zur Schule.
Seit vier Jahren hat sie nichts mehr von ihren Eltern gehört und gesehen. Sie wohnt 200 Kilometer von ihnen entfernt in einem friedlichen Dorf an der Elbe.
Endlich kann sie nachts durchschlafen und liegt nicht mehr stundenlang wach. In ihren Träumen kommt Marlene sie besuchen. Sie feiern Weihnachten, spielen im Schnee und essen Berge von Süßigkeiten. Dann werfen sie sich verstohlene Blicke zu. Ein bisschen wie früher, nur anders, unbeschwert, glückliche Blicke.