"Sicherstes Einkaufszentrum der Welt garantiert friedliches Weihnachtsfestival."
"Pah, leeres Geschwätz!" Samuel ging die Schlagzeilen im Kopf noch einmal durch. Je prunkvoller die Weihnachtsveranstaltung des morgigen Tages geschildert wurde, desto lächerlicher empfand Samuel es. Kopfschüttelnd zog Samuel die Vorhänge der Umkleidekabine zu. In der Hand hielt er eine durchsichtige Schnur, die an einer Hose am anderen Ende des Kleidungsgeschäftes befestigt war. Er musste sie kräftig genug ziehen, damit der ganze Stapel Hosen aus dem Regal fiel und die Schnur, samt als Anker fungierender Hose von der Bildfläche verschwand. Gleich alle drei Verkäuferinnen, die sich gerade von der Ladenöffnung ausruhten, liefen zum Hosenhaufen. Mit beiden Händen griff Samuel zu den oberen Rändern der Umkleidekabine. Ein Ruck und er stand, wo vorher seine Fingerspitzen sich in die billigen Spanplatten gekrallt hatten. Von hier konnte er den ganzen Laden überblicken. Zehn Meter vor sich hockten die Verkäuferinnen und falteten Hosen. Ihre Gesichter spiegelten sich im Schaufenster. Seins auch. Erschrocken wirbelte eine Verkäuferin herum. Während sie mit ihrer Kollegin, die sie versehentlich mit ihrer Umdrehung umgestoßen hatte, zu Boden ging haschte ihr Blick über die Umkleidekabinen.
"Sicherstes Einkaufszentrum der Welt garantiert friedliches Weihnachtsfestival."
Sicherheit und Frieden waren voneinander abhängig. Das konnte Samuel nicht leugnen. Aber ebenso konnte man auch den Sinn verdrehen. Ohne Frieden keine totale Sicherheit.
Mit zwei kräftigen Rucken verschwand er vollends im Lüftungsschacht. Das Zentrum war in der Tat sicherste der Welt. Vor allem heute. Schon so früh des Tages wimmelte es von Security-Männern, Soldaten und Polizisten die einen eventuellen Anschlag auf die Veranstaltung vereiteln sollten. Aber um die Kooperation stand es katastrophal: Täglich Berichte von Kündigungsdrohungen des Einkaufszentrums den Läden gegenüber und Abwerbversuche dieser gegenseitig. Keine Rede von Frieden. Zum Beispiel dachte keiner daran welche Möglichkeiten die Abluftröhre einem Einbrecher bieten könnte. Zwar hatten die Ladeninhaber, egoistisch wie sie waren, auf ein komplettes Abluftrohrsystem für alle Geschäfte verzichtet doch waren sie immer hin über die Main-Hall des Zentrums miteinander verbunden. 110 Meter hatte Samuel kriechend durch die metallischen Rohre zurück zulegen. Die Zahl konnte er sich gut merken. Am Ende dieser unkomfortablen Tour reckte er seinen Kopf aus dem Schacht. Zehn Meter unter ihm wimmelte es von Menschen. Das hier sollte das Ende jedes Einbrechers sein. Zu mindestens aus der Sicht des Filialleiters. Er hatte den Schacht nicht grundlos in dieser Höhe ende lassen. Doch, es sei der fehlenden Kommunikation zwischen Laden und Einkaufszentrum gedankt, gab es auf dieser Höhe einen dekorativen Sims über dem Samuel in einen anderen Schacht gelangte. Dieser verlief schon nach wenigen Metern senkrecht. Nach zwei Metern freien Fall landete Samuel in einem Baumarkt. Durch ein Regal und ein Schaufenster konnte er eine Schar Menschen sehen die sich in das soeben geöffneten Nachbarladen stürzten. Der Baumarkt würde erst in 1,5 Stunden öffnen. Wieder eine Nichtübereinstimmigkeit der Läden, die seinen Plan ermöglichten. Nun konnte er gemütlich durch den Laden schlendern und sich in Ruhe eine Flex aussuchen und wieder im Rohr verschwinden. Kurze Zeit später stand er erneut in zehn Meter schwindelnder Höhe auf dem Betonsims der Main-Hall. Alle seine Sinne konzentrierten sich auf den nächsten Moment. Die gesamte Beleuchtung verlosch. Samuel sprang. Mit der einen Hand die Kreissäge fest umklammert flog er durch die Luft Dunkelheit. Nach 3 Sekunden Flug krachte er gegen den überdimensionalen Adventskranz der in 8 Metern Höhe für die Beleuchtung an diesem, so denkwürdigen Tag sorgen sollte. Gestiftet wurde er von dem Floristen, der seinen Kranz vor der großen Veranstaltung noch einmal testen wollte. Da er sich jedoch mit dem Manager des Einkaufszentrums nicht gründlich abgesprochen hatte, kam die von Samuel soeben genutzte Dunkelphase zur Stande.
Nach zehn Sekunden setzte endlich die Kranzbeleuchtung ein. Ein Kind schrie nach seiner Mutter. Die Menschenmenge starrte gebannt nach oben. Samuel jedoch kletterte bereits die Kette, die den Kranz in der Luft hielt, empor. Oben angekommen ersetzte er den Stecker der Lampen am Kranz, gegen seiner vor kurzen erworbenen Flex. Erneut ging das Licht aus,, doch setzte diesmal ein ohrenbetäubendes Kreischen ein. Es knackte kurz, die Kreissäge verstummte und der gigantische Kranz bewegt sich vertikal dem Erdkern entgegen. Unten angekommen krachte er in die Bühne, in die kreischende Volksmenge und in die technische Anlage. Letzteres verursachte einen gewaltigen Kurzschluss. Die dabei freigewordene Hitze sprang auf den Kranz über und dessen trockene Äste nährten bald ein großes Feuer. Samuel betrachtete all dies aus zwölf Metern Höhe. Hier baumelte er an "seiner" Kreissäge, dessen Kabel in der, seitlich an der Glaskuppel angebrachten, Steckdose, steckte. Dort hinauf kletterte er jetzt. Inzwischen war das Feuer auf die ersten Läden übergesprungen, so dass der Rauchmelder der Glaskuppel das Signal zum Öffnen übermittelte. Samuel nutzte die ihm weitgeöffnete Tür zur Freiheit sofort und nach einer kurzen Kletterpartie, befand er sich auf dem Parkplatz.
Zuhause angekommen wartete seine Familie bereits auf ihn. Friedlich, gemeinschaftlich und Einig feierten sie die Geburt Christi in aller Sicherheit.