Sie selbst hatte es sich immer wieder laut vorgesagt - wie eine Beschwörungsformel: Ein Jahr braucht's - mindestens. Das war ihr Zeit-Strohhalm, an dem sie sich festklammerte. Bis dahin hieß es immer nur einen Tag im Voraus denken und an jedem einzelnen Morgen nur bis zu jedem einzelnen Mittag. Und jeden Abend DANKBAR sein, wenn wieder ein Tag geschafft war - und keinen Gedanken an die bevorstehende Nacht! Aber "bis dahin", das war der springende Punkt.
Im April hatte er ihr ... Wie oft hatte sie sich diese Geschichten von anderen Frauen angehören müssen. Klischee, Klischee, Klischee! Über Geld würde man sich nicht streiten, sie solle mit den Kindern im Haus weiter wohnen, er würde sich eine kleine Wohnung in Köln nehmen. Wenn es einen Preis im Schnell-eine-neue-Wohnung-Suchen-und-anschließendem-noch-schneller-einen-Umzug-Organisieren gäbe, ihrem Mann stünde er zweifelsohne zu. Das Leben war weiter gegangen, egal wie, aber weiter. Nicht gut, aber wo stand denn eigentlich geschrieben, dass ein Leben gut zu gehen hat? Ein Leben soll, will nur gelebt werden, mehr nicht, aber auch nicht weniger. Und manchmal … Paula hatte Tage, da fragte sie sich, ob das Leben war, was sie da gerade fühlte, wenn sie gar nichts fühlte. Es gab Tage, da wünschte sie sich tot zu sein. Das waren immerhin Tage, da wusste sie, dass sie lebte!
Bis zu Beginn der Adventszeit hatte sie es irgendwie geschafft: Sie hatte im Sommer die verliebten Paare, die ihr auf jedem Quadratzentimeter öffentlicher Fläche auflauerten, ertragen. Die einsamen Fahrradtouren gegen die Herbststürme hatten sie zwar Überwindung gekostet, aber danach war sie immer so schön müde gewesen, zu grübelmüde. Und immer wieder waren da ihre drei Töchter, die Zeit einforderten, mit denen sie sich trefflich streiten durfte, die sie trösteten. Mit denen sie sogar lachte. Es ging doch, lief doch, nein, es humpelte, es kroch - und selbst das Kriechen forderte Disziplin! Sogar dem November, wenngleich er ihr trostloser vorgekommen war als irgendein vorheriger November, hatte sie kerzentechnisch Paroli geboten. Außerdem, für viele andere Menschen war der November auch nicht gerade ein Hit. Nimm dich nicht so wichtig, Paula! Für den November konnte sie IHN nicht verantwortlich machen. Der November steht für INNERE INVENTUR. Und da hatte sie ja massenhaft zu tun! Kahle Bäume und Tage, an denen du den Schlafanzug einfach tagsüber Hausanzug nennst. Das einzig Schöne am November war für sie die Vorfreude auf die Adventszeit. Da wurde es zwar auch nicht viel heller als im November, aber störte es sie nicht mehr!
Endlich war er da, der erste Advent! Paula saß mit ihren drei Töchtern am Esstisch. Charlotte, die jüngste, hatte auf ihrem Nesthäkchen-Recht bestanden und die Kerze angezündet... "Guck da, fast hast du dir die Flossen verbrannt. Einfach nur blöd, Charlotte." "Selber blöd." "Schließlich bist du kein Baby mehr. Wie lange willst du noch darauf rum reiten, dass du die Jüngste bist?" "Alice, lass es sie doch machen. Es kann ja nur einer machen." "Du nervst." "Eben, und darum mache ich es." "Guck du erst mal, dass du es mit dreizehn schaffst, für Klopapiernachschub auf dem Klo zu sorgen." "Manno, Mama, die Alice ist doof. Kein Wunder, die ist ja die Mittlere, und die sind alle doof." "Julia, jetzt sag du doch auch mal was." "Charly, ich finde, du bist ganz schön frech."… Es war fast wie immer. Diese Welle, die in ihr Ohr schwappt. Um sie herum ein Meer aus Gezeter, Beleidigtsein, Foppen, Nörgeln, Aufziehen, Lauterwerden, Einschnappen. Stimmen durcheinander, Stimmen übereinander, neben einander. Die Stimme einer jungen Frau, die angenervte jugendliche Stimme und die freche Kinderstimme. Paula schwimmt in diesem Stimmenmeer und spürt so etwas wie, früher hätte sie glattweg gesagt, Glück. Jetzt vielleicht so etwas wie Zufriedenheit. Froh, dass sie es schon so lange ohne ihn irgendwie geschafft hat. Immerhin hatte sie schon Bergfest, wenn man es denn so nennen wollte. Mehr als ein halbes Jahr war vergangen… "Wenn ich euch beide immer so streiten sehe." "Ja, jetzt kehren wir hier mal wieder fix die große Schwester raus. Das kannst du ja am besten." "Das hat damit überhaupt nichts zu tun." "Aua, Alice"… UNDANKBAR war sie! Sie saß hier mit ihren drei unglaublich tollen Kindern und versuchte allen Ernstes, ihren Gemütszustand zu beschreiben. Paula, finde dich gefälligst damit ab, dass du glücklich zu sein hast! Um dich herum ist das Leben, dein Leben pur. Jetzt musste sie nur noch wieder lernen, am Esstisch des Lebens zu sitzen und nicht nur daneben. Doch, Paula glaubte gerade jetzt, dass sie das Weihnachtsfest packen könnte. So viel würde sich ja nicht ändern! ER war weg, nicht sie!
An einem der ersten Dezembertage hatte er dann angerufen. Als das Telefon klingelte, hatte sie gespürt, dass er es war, und auch gewusst, warum er anrief.
Wie sie sich denn das Weihnachtsfest vorstelle.
Wie sie sich das Weihnachtsfest vorstelle? War das von ihm eine ernst gemeinte Frage? Ging es ihm um ihre Vorstellung?
Er halte es für keine gute Idee, dass er Heiligabend bei ihr und den Kindern sei.
Halte er für keine gute Idee.
Nicht, dass sie sich sonst womöglich falsche Hoffnungen machten. Das sehe sie doch sicher auch so.
Sehe sie auch so... Nichts sieht sie so wie er. Lange hat sie seine Stimme nicht mehr gehört. Diese Stimme, die sie immer noch liebte - wie den Mann, dem sie gehörte.
Er denke, es sei für alle Beteiligten leichter, dass die Kinder einmal mit ihm und einmal mit ihr feierten. Alles andere sei ja Vorspiegelung falscher Tatsachen.
Wenn er das so sehe, kämen die Kinder dann eben am ersten Weihnachtstag zu ihm. Dieses verdammte Zittern in ihrer Stimme! Sie war sich selbst zuwider!
Ja, und genau darüber wolle er mit ihr sprechen…
Was gab's denn jetzt noch zu besprechen. Sie sagte doch zu allem ja! Alles so, wie er wollte.
Er führe schon am ersten Weihnachtstag in den Winterurlaub. Den habe er sich, weiß Gott, dieses Jahr verdient... Rollout-Probleme habe es gegeben… die belgische Niederlassung… Übernahme der Rechenzentren… Probleme… Probleme… das könne sie sicher verstehen oder auch nicht. Er sei ja dafür verantwortlich, dass es finanziell liefe.
Das Totschlagargument! Urlaub notwendig, weil Männe müde von der Arbeit. Er wusste, dass sein Anliegen unmöglich war: Heiligabend OHNE DIE KINDER! Deshalb sofort die härteren Bandagen.
Ob sie noch dran sei.
Ja, ja sie sei noch dran.
Falls sie dran dächte, das Weihnachten bei ihm ersatzlos zu streichen. Käme nicht in Frage. Es müsste schon so laufen.
"Dann kommen die Mädchen Heiligabend zu dir." "Gut, hätten wir das geklärt. Gibt's von deiner Seite noch etwas?" "Nein." "Schön, bis dann mal." "Bis dann mal."
Klar, sie würde das Weihnachtsfest packen. Am ersten Advent, da hatte Paula mal so richtig Oberwasser gehabt! Sein Anruf hatte sie wieder an Land geschwemmt. JEDE EINZELNE HEILIGABEND-MINUTE lag nun vor ihr. Schlicht verdrängt hatte sie bis dahin diesen Tag, die Planung, wusste sie doch, dass es sie in tiefe Traurigkeit stürzen würde! Noch nie in ihrem Leben war sie Heiligabend ALLEIN gewesen! Den Telefonhörer noch immer in der Hand flossen unzählige Heiligabende mit ihrem Mann und Kindern an ihr vorbei. Und jetzt sollte sie an Heiligabend ALLEIN sein! Denn eins war klar, sie würde sich nicht kurzfristig bei ihrer Schwester mit Mann und Kindern einladen. Am ersten Weihnachtstag ja, aber NICHT Heiligabend! Es blieb ihr keine andere Wahl. Selbst wenn sie es auf einen Streit mit ihm angelegt hätte, ihre Töchter hatten ein Recht auf ihren Vater an Weihnachten. Da musste Paulas Egoismus außen vor bleiben! Also beschloss sie, den Töchtern nur mitzuteilen, wie sich die Eltern GEEINIGT hatten. Wie sonst könnten die Mädchen ein einigermaßen unbeschwertes Fest verleben? Schließlich hatten sie in den vorangegangen Monaten Paula schon zu häufig trösten müssen.
Die Töchter hatten nur leicht gestutzt, aber weil Mama die Information wirklich recht leidenschaftslos rüber gebracht hatte, war es dann okay gewesen.
Der Heilige Abend. Doch, er war um einiges kleiner. Wie er so da stand, auf der Terrasse. Aber das war wirklich noch die kleinste Veränderung, die der heutige Tag OHNE IHN mit sich brachte. Immerhin hatte sie den Baum selbst geholt! Nicht so romantisch wie früher. Da war er mit den Kindern raus aufs Land gefahren und stundenlang waren sie die Anpflanzungen abgegangen auf der Suche nach dem schönsten Baum von zwei Welten. "Mama, wir haben an die Bäume rote Fäden gebunden, damit uns die keiner wegschnappen konnte." Frisch war der Baum, der allerschönste dann geschlagen worden. "Zum Schluss hatten wir drei zur Auswahl, Mama, und haben lange überlegt." Dann war der am geradesten gewachsene Baum im Netz zur Baumwurst mutiert. "Mama, Mama, ich durfte die Netzmaschine bedienen." Mit zwei kräftigen Männerhänden und vielen Kinderhänden hatte der Königsbaum seinen Weg zu seinem Bestimmungsort angetreten. Paula war nie dabei gewesen. Ein Papa-Töchter-Event. Für Paula war es ganz wichtig gewesen, dieses Ritual.
Paula liebte Rituale über alles. Größer konnte die Veränderung gar nicht sein! Dieses Jahr hatte sie den kleinen Baum ein paar Straßenzüge weiter total uninspiriert bei einem Weihnachtsbaumverkäufer erstanden. Plötzlich wuchsen ja ein paar Wochen vor Weihnachten überall mitten in der Stadt Tannenbäume. Diese notdürftig abgetrennten kleinen Fleckchen Erde in der Nähe von EDEKA und KAISERS, auf denen in der Vorweihnachtszeit ein Mensch Hände reibend den ganzen Tag frieren musste. So war es ihr jedenfalls immer vorgekommen. Der freundliche, rotwangige, Mütze tragende Nordmanntannen-Verkäufer hatte sie tatkräftig beraten, den ein oder anderen Baum aus der Tannenbaum-Anonymität heraus gezerrt und ihr zur Ansicht vorgehalten. Ja, und sie hatte es nicht für möglich gehalten, sie hatte sich recht schnell entschieden! Nachdem auch ihr Baum zur Wurst mutiert war, hatte der nette Christbaumverkäufer ihr noch die nun handliche Baumwurst quer hinten auf den Fahrradkorb gelegt und ihr schöne Feiertage gewünscht. Und dann war sie abgezogen, mit der einen Hand den Lenker, mit der anderen Hand den Baum haltend - und dem Gefühl, einen guten Kauf getätigt zu haben. So ein wenig in Freudenstimmung wie ihre Töchter in den vergangenen Jahren. Durchaus verhaltener, aber doch da.
So langsam sollten die Kinder mit dem Aufstellen und Schmücken beginnen. Es gab immer Unvorgesehenes, und später drängte die Zeit. Er wollte die Kinder am frühen Nachmittag abholen. Da mussten sie mit dem Baum fertig sein. Das Telefon klingelte.
Er habe kurzfristig in Bonn zu tun, da böte… die Kinder direkt mit nach Köln zu... Er habe nicht wirklich Lust, dieselbe Strecke ein paar Stunden später... Er habe seine Zeit ja auch nicht gesto… und das ein oder andere packen müsse er… Für ihn sei es eine Erleichterung und ihr könne es ja egal sein. Auf die paar Stunden käme es jetzt auch nicht mehr an.
EGAL SEIN! Auf jede EINZELNE SEKUNDE kommt es mir an, die ich heute NICHT ALLEINE bin. Und das WEIßT du! Auf JEDE EINZELNE DRECKSVERDAMMTE SEKUNDE!
"Die Kinder wollen noch den Baum schmücken. Das zumindest solltest du nicht auch noch ändern." "Komm mir nicht mit deinen Ritualen, Paula. Auch Rituale haben ihre Zeiten. Und jetzt ist definitiv nicht die Zeit." "Aber zu vieles ändert sich schon für sie." "Paula, die haben das besser im Griff, als du es sehen möchtest. DU hast die Probleme, Paula, nicht die Kinder."
Sein Totschlagsargument. Die Kinder als Alibi. Er hatte ja Recht.
"Ich sag den Kindern Bescheid. Wie viel Zeit lässt du ihnen zum Packen?" "Ich bin in zirka einer Stunde da. Frohe Weihnachten, Paula." "Frohe Weihnachten." Wenn er auf dieses Frohe-Weihnachten-Ritual doch dann auch verzichtet hätte!
Nach einem kurzen "Wer schmückt denn dann den Baum?", beantwortet mit einem genau so kurzen "Ich werde mein Bestes geben", nach lautem Suchen und lärmenden Ge-suche-packe-schubse-lärme, nach dreimaligem festem Drücken und "bis morgen" waren sie weg.
Paula war zum ersten Mal in ihrem Leben Heiligabend allein. Nur nicht durchdrehen, nur nicht abdrehen, nur nicht in Starre verfallen, nur nicht, nur nicht, nur nicht weinen! Der Baum stand auf der Terrasse und wartete. Der Baum als Imperativ, der Weihnachtsbaum, der fordert. Paula war nicht nur das erste Mal allein an Heiligabend. Nein, nicht nur das. Paula hatte auch noch nie einen Weihnachtsbaum aufgestellt. Das war immer Sache der Männer, der Väter, der Brüder - und später des Mannes und der Töchter. Sie hatte derweil den rituellen Kartoffelsalat vorbereitet, noch die letzten kleinen Geschenke eingepackt, den Süßigkeitsteller gefüllt. Sie waren ein eingespieltes Team gewesen. Ihre Rolle war NICHT das Aufstellen des Baums gewesen. Morgen kamen die Töchter zurück und dann musste der Baum stehen, Hauptsache stehen, egal wie.
Arbeitshandschuhe, das A und O sind Arbeitshandschuhe. Paula geht nach unten in den Hobbykeller und sucht und sucht und sucht. Wann hat sie hier je mal etwas gesucht? So einen von den Schraubenziehern, ja, den sollte sie mal bringen "Die hängen, wenn du rein kommst, direkt rechts an der Wand", aber Arbeitshandschuhe? Gehen wir logisch ran. Definitiv nicht zwischen tausend Farbpötten und hundert Übertöpfen. Auch nicht in der Nähe der klitzekleinen Schrauben-Nägel-Dübel-Kästchen. Paula hat sich mittlerweile einige Fäden an ihrer Hose gezogen und einen Ratscher im linken Zeigefinger. Und sie hat noch nicht mal angefangen! Garage! Plötzlich macht es Klick bei ihr und sie verlässt Zeigefingerblut ablutschend den Hobbyraum Richtung Garage. Im unteren Stahlregal, Abteilung Gummistiefel, kleines Gartengerät wird sie fündig. Und dabei trifft sie zufällig auf die Astschere, für die sie bestimmt noch Verwendung haben wird. Geht doch! Wichtig, Baum erst aus seiner Zwangsjacke befreien, wenn an seinem endgültigen Standort! Paula verrückt aus standorttechnischen Gründen das ein oder andere Möbelstück. Auf dem Speicher sucht sie nach den Wo-oben-Weihnachten-drauf-steht-Umzugskartons. Oder ist der Ständer im Keller? Gehört der Ständer eher zu Deco oder zu Werkzeug? Jetzt bin ich eh oben. Im letzten Wo-oben-Weihnachten-drauf-steht-Umzugskarton findet sie Ständer und Lichterkette.
Ständer an die richtige Stelle und Öffnen der Terrassentür. Natürlich nieselt es. Klar, anders wäre ja auch einfacher. Fast legt sie sich hin, weil die Terrasse rutschig ist und sie gedanklich total mit dem Baum beschäftigt ist. Beim ersten Baumkontakt stellt sie schmerzlich fest, dass sie vergessen hat, die Arbeitshandschuhe anzuziehen. Das kann ja heiter werden! Also vorsichtiges Zurückrutschen ins Wohnzimmer, Anlegen der Arbeitsmontur, wiederholtes Annähern und Zugriff. Paula trägt den Baum langsam ins Wohnzimmer und ist froh, dass sie sich kurz entschlossen für einen dicken Arbeitsanorak entschieden hat. Sie steckt den Baumstamm in den Ständer und zurrt fußtechnisch den Draht zu. Und jetzt? Wann wird sie sich trauen, den Baum los zu lassen? Aber selbst wenn sie wollte. Sie hält den Baum so verkrampft fest, dass sie ernsthaft besorgt ist, ob sich die Finger je wieder lösen lassen. Letztlich schöpft sie ihre Finger-Lösen-Willenskraft aus der schlichten Tatsache, dass ein dünner Rinnsal Blut sich vom linken Zeigefinger auf den Weg Richtung Ellenbogen gemacht hat. Langsam lockert sie die Finger beider Hände. Lässt zunächst aber nur die linke Hand los, um schon mal in Ruhe das Blut vom Arm zu lecken. Der Baum scheint fest zu stehen. Lösen der rechten Hand kann gewagt werden. Paula wagt und gewinnt. Zumindest auf den ersten Blick. Der Baum steht, ja, aber schief. Das muss sie zur Kenntnis nehmen, als sie ihr Werk aus einiger Entfernung in Augenschein nimmt. Im Wohnzimmer ist es mittlerweile saukalt. Türen schließen, das kann sie aber erstmal machen. Der Baum ist drinnen und steht. Nachdem inzwischen Terrassentürgriffe, Parkettfußboden, Stühle und Tisch die eine oder andere Blutspur zu verzeichnen haben, entschließt sich Paula zunächst für die Verarztung ihres Zeigefingers. Dann korrektes Aufstellen, zweiter Versuch mit Pflasterunterstützung. Lösen des Spanners, etwas nach rechts, anzurren. Auf Abstand gehen - zu weit nach rechts…. Nach mehrmaligem Korrigieren steht der Baum doch tatsächlich gerade, geben Paulas unbestechliche Augen ihr Okay. Während Paula den Baum betrachtet, fällt ihr das Wort "Baum einstielen" ein. Wo hatte sie das mal gehört? Jemand hatte gesagt, dass er für das Einstielen des Baumes zuständig sei. Hörte sich irgendwie nach mehr an als Baum Aufstellen. Sie hat soeben ihren ersten Weihnachtsbaum eingestielt! Nun gilt es, die Baumwurst aus ihrer Zwangsjacke zu befreien. Paula schiebt einen Stuhl neben den Baum, steigt auf Nämlichen, bewaffnet mit einer Haushaltsschere, und fängt von oben an, das Netz aufzuschneiden. Stellt bald fest, dass der Stuhl viel zu nahe am Baum steht, da dieser sich nun immer mehr verbreitert, muss deshalb innehalten, den Stuhl anders positionieren, wieder drauf steigen, Obacht halten, dass kein Zweig ins Gesicht schnellt, steigt für das untere Baumdrittel wieder ab, immer das Gesicht so weit wie möglich auf Abstand. Behutsam befreit sie die letzten Äste vom Netz und schmeißt es direkt in die Mülltonne. Erstmal den Stuhl auf die Seite. Von wegen der Optik, um zu schauen, ob tatsächlich die Astschere noch zum Einsatz kommt. Paula hat sie zwar nicht im Schweiße ihres Angesichts gesucht, aber mit ein wenig Glück käme das Werkzeug vielleicht zum Einsatz, ohne gesucht worden zu sein! Und siehe da, ein Ästlein tut ihr den Gefallen. Es steht zu weit raus, hängt nach unten. Täuscht sie sich oder sieht es durch den kleinen Ast sogar aus, als stünde der Baum schief? Immer noch mit Arbeitshandschuhen und Arbeitsanorakmontur nimmt Paula die Schere und kappt beherzt den Ast. Noch einmal ein paar Schritte zurück, die Arbeitshandschuhe abstreifend, den Reißverschluss öffnend, steht Paula nun da und betrachtet zufrieden ihren Baum.
Sie verspürt LUST auf eine Tasse Kaffee. Den hat sie sich verdient. Sie räumt eben erst Handschuhe und Heckenschere weg. Draußen fängt es schon an, dämmrig zu werden oder war es heute den ganzen Tag so dunkel? Paula sitzt auf dem Sofa, ihren Schaum-bis-über-Glaskante-Milchkaffee in beiden Händen haltend, einen Zimtstern im Mund langsam mit den Zähnen mahlend, und betrachtet ihren Baum. Vielleicht gibt es wirklich Zeiten für Rituale und jetzt war dafür eben keine Zeit. Als Nächstes - und da weiß Paula nun nicht, ob das der schwierigste Teil der Übung ist, ob sie sich nicht besser den Milchkaffee als Belohnung für DANACH hätte aufbewahren sollen - steht das Anlegen der Lichterkette an.
Apropos Kette. Die Zum-Abend-ausgehen-Süßwasserperlenkette hatte sie sich immer von IHM schließen lassen - ging einfach schneller. Die kann sie sich ja heute Abend mal anlegen, wo sie doch jetzt im Begriff ist, sich sogar mit der Weihnachtsbaumlichterkette auseinanderzusetzen. Nochmal Pipi machen, also Anorak ausziehen - deshalb ist ihr so heiß, wegen ihrer Arbeitsmontur. Und sie dachte, es läge am Milchkaffee und der Einstiel-Aktion mit großem körperlichen Einsatz. So, genug um die Lichterkette herum geschwänzelt - jetzt musst du anfangen, Paula. Und Paula breitet vor sich auf dem Fußboden ganz behutsam die Kette aus. Wie war das? Am Ende muss die Kette wieder an den Anfang zurückkommen? Da hatten die Töchter und ER IMMER ihre Probleme, weil der Baum viel zu groß für die Anzahl der Kerzen war. Da mussten sie sich IMMER Mühe mit der Verteilung geben. Nicht umsonst war ER IMMER beim Einstielen und Lichterkette-Anlegen der Regisseur gewesen! Mit den Augen fährt Paula den Baum links hoch und rechts wieder runter. Sie legt sich die Lichterkette ganz weitläufig um Arme, Hals und Schulter wie eine Boa Konstriktor, der Rest baumelt an ihr runter. Anstecken der einzelnen Kerzen, beginnend unten links, langsames Hocharbeiten bei gleichzeitigem Stuhlbesteigen und Gleichgewichthalten, schmerzhaftes Feststellen der Tatsache, dass Anorak nicht wieder angezogen wurde, und deshalb der gesamte Rumpfbereich schmerzmäßig leicht in Mitleidenschaft gezogen wird. Schon beim Erklimmen des Baumwipfels erkennt Paula, dass bereits zwei Drittel des Leuchtmaterials verbraten sind. Ein - das wievielte ist es überhaupt - "Scheiße" entwischt dem Mund. Von diesen Spontan-Auswürfen hat Paula an diesem Nachmittag recht viele. Woran mag es wohl liegen? Also Abklemmen der bereits an geklemmten Kerzen von oben nach unten links mit gleichzeitiger Stuhlaufgabe und Wie-vorher-vor-dem-Baum-Stehen. Nur dass Paula sich die Kette ein wenig zu fest um den Hals gelegt hat, was recht hinderlich für die Einhaltung der Körperfunktionen ist. Paula merkt, wie die Situation zu kippen und die Totenstarre droht. Die Tränendrüsen sind spontan einsatzbereit. Aber wie sieht das aus, eingewickelt in eine Lichterkette, nach Luft ringend, flennend ohne Taschentuchangabe? Nein, Paula, lass dich nicht hängen. Du liest einen Steuerbescheid und weißt mittlerweile, was Präkariat bedeutet. Dann wirst du hier wohl in der Lage sein, eine praktische Lösung zu finden! Und sie findet. Sie stellt sich wieder auf den Stuhl und legt die Kette erstmal nur auf den Baum, befreit sich aus deren Würgegriff der Kerzenboa. Jetzt kann sie in Ruhe die Mitte der Kette an die höchste Baumstelle drapieren. Zupfen, leichtes, unwilliges Zerren, Verlagern, Rangieren, Umlegen, parallel dazu ein ständiges Stuhl Auf und Ab.
Am Ende ist Paula mit der Lage der Kette zufrieden. Das Anklemmen der Kerzen dürfte nun ein Zeit-Klacks sein. Für die Mehrheit der Menschheit sicherlich. Paula gehört ganz sicher nicht dazu, zu der Mehrheit. Da toben sich jetzt die Korinthen-Kackerin, die Pedantin, die Neurotikerin und die ehemalige Finanzbeamtin aus. Und das aus gutem Grund. Was nutzt das ganze Gehampel mit gerade gewachsenem Baum und so, wenn dann die Illumination für den Eimer ist. Die Werbung macht es täglich vor. Du kannst den größten Scheiß verkaufen, Hauptsache du setzt ihn gut in Szene. Die letzte Kerze ist noch mal umgeklemmt worden und Paulas Körper zeigt so langsam Ermüdungserscheinungen. Sie hat vom dauernden Umklemmen Krämpfe in den Fingern, der Nacken meldet sich vom ständigen Kopf-in-den-Nacken-ob-Gesamteindruck-stimmt-Werfen, die Waden wissen ein Liedlein zu singen und jetzt, Paula möchte den Lichterkettenstecker in die Steckdosenleiste, für deren Auffindung Paula den halben Hobby-Keller aufgeräumt hat, nach vorne bückend stecken, meldet sich vehement und absolut kompromisslos der Rücken. Langsam versucht sie wieder in die Vertikale zu kommen, tritt zurück und - die Kerzen brennen und unterstreichen Dank akkurater Anordnung den Baum in seiner natürlichen Schönheit. Da zahlt sich Sorgsamkeit eben aus. Gut, dass die Kerzen nunmehr zusätzliches Licht spenden, draußen ist es nämlich mittlerweile stocke duster geworden. Na ja, war ohnehin ein trüber Tag. Jetzt hat sie sich aber ein Glas Sekt verdient. Paula sitzt auf dem Sofa und mit ihr der geschundene Körper, ein Glas Sekt in der Hand - und ist stolz, stolz auf ihren Baum.
Es fehlt nur noch der Schmuck, immerhin in drei Kartons verstaut. Paula stellt das halb leere Sektglas in nicht allzu weite Baumferne, wuchtet die Kartons neben den Baum. Sie verteilt mehr oder weniger alles im Wohnzimmer, um sich einen ersten Sortiments-Überblick zu verschaffen. Wahnsinn, so eine Keller-unter-Wasser-und-viele-Kartons-samt-Inhalt-hinüber-Heimsuchung hat auch seine Vorteile! Oder bei einem Umzug diese blöde Sorry-der-Karton-ist-beim-Einräumen-auf-der-Straße-stehen-geblieben-Geschichte. Oder diese Irgendwann-konnte-ich-den-ganzen-Pröll-nicht-mehr-ertragen-und-da-hat-meim-Therapeut-mir-empfohlen-mich-mal-von-Altem-zu-trennen-Therapie. Oder das Ups-Kind-ist-einfach-hinterrücks-in-den-vollen-Karton-Getreten. All das war nie passiert… Zwei kleine vor hundert Jahren im Kindergarten gebastelte Engelchen wirken reichlich mitgenommen und würden Paulas Baum nicht wirklich schmücken. Doch, von diesen beiden mit viel Liebe und Watte und noch mehr vielem Klebstoff gebastelten Mama-Geschenken muss Paula sich jetzt mal trennen. Es gibt ja noch unzählige dieser mit großen Kinderaugen überreichten Liebesbeweise. Dieses Jahr sollte ER, der Baum, vielleicht ein wenig beruhigend wirken, nicht ganz so überladen. Nachdem Paula sich noch ein Schlückchen Sekt gegönnt hat, öffnet sie beherzt die Packung mit den roten Kugeln. Für Paula liegt einfach zuviel auf dem Boden herum, sie kann sich gar nicht entscheiden. Auswahlkompetenz, die hatte sie noch nie. Aber rote Kugeln, bei roten Kugeln ist sie auf der sicheren Seite, da kann sie nichts mit falsch machen. Nach der dritten Kugel fällt sogar ihr auf, dass sie mit ein wenig mehr Leichtigkeit, Zufälligkeit, Lässigkeit ans Baumwerk gehen sollte. Sonst wird der Baum zwar fertig, aber erst zum nächsten Weihnachtsfest, ohne Nadeln perfekt geschmückt. Einfach so mal los schmücken, auch das muss sie erst noch lernen. Mit einem weiteren frischen Schluck Sekt klappt's dann. Zu den roten Kugeln machen sich die goldenen gut. Kugeltechnisch ist Paula zufrieden und so langsam kann sie ein wenig relaxen. Denn selbst wenn sie jetzt in eine Spontan-ich-kann-mich-nicht-entscheiden-Starre verfällt, gilt der Baum als geschmückt, dezent geschmückt, aber geschmückt. Eben extra. Doch, mit Abstand und ihrem Glas Sekt ihren Baum in Augenschein nehmend, ist Paula zufrieden. Nicht so überladen soll er sein, aber das ist noch nicht ganz ihr Baum. Gut, ja, an allem kann und soll man nicht festhalten, aber was spricht jetzt dagegen, bitteschön, diesen niedlichen Strohstern aufzuhängen, den Julia gebastelt hat… oder das Papppferdchen von Charlotte. Es hat zwar nur noch ein Ohr, aber wenn sie es geschickt drapiert, sieht's keiner… oder die... und... Und Paula geht zum Papierkorb, holt die beiden Klebstoff-Watte-Engelchen und hängt sie an den Baum. Ganz nach vorne, wo jedem die leicht derangierten Flügelchen und die Klebstoffwülste auffallen werden. Überraschend wenig ist auf dem Boden geblieben. Und das, wo der Baum doch um vieles kleiner ist als in all den vorangegangenen Jahren.
Paula hat die Kartons wieder verstaut, das Wohnzimmer ist aufgeräumt, der Baum leuchtet. Er ist nicht wirklich dezent, geschmackvoll dekoriert. Eher ein Viele-schöne-Erinnerungen-Baum. Paulas Lebensbaum, vor Paula steht ihr Leben. Und Paula ist gerade dabei, sich damit abzufinden, jetzt doch verständlicherweise einmal selbstmitleidmäßig an diesem Heiligen Abend in ihren Tränen zu ertrinken, als sie zufällig auf die Uhr schaut. Und da wird ihr klar, dass die Dunkelheit mitnichten etwas mit trübem Tag, mit geschlossener Wolkendecke, mit nahendem Gewitter zu tun hat. Nein, es ist 22.00 Uhr und wenn Paula sich jetzt nicht ganz dolle sputet, wird sie noch die Christmette verpassen, in die sie unbedingt gehen will …