Inzwischen sagte der Pfarrer zu den beiden Mädchen: „Wenn ihr nicht lernt, euch mit andern zu freuen, so werdet ihr wenig Freude erleben, wer sich aber mit andern freuen kann, dem wird es durch’s ganze Leben hindurch nicht an Freude fehlen.“
Sobald die ganze Oberklasse versammelt war, sprach der Pfarrer in verändertem, heiterem Ton: „Dies Kleeblatt hat also den Wunsch, eine Schlußfeier zu veranstalten und hat euch gerufen, damit ihr alle mittut und zunächst meinen Vorschlag mit anhört. Will man jemand eine Freude machen, so muß man vor allem seine Eigenart bedenken. Da hat mich nun Fräulein von Zimmerns große Vorliebe für die Literatur auf einen Gedanken gebracht. Ihr wißt alle, wie gern und wie ausgezeichnet sie in diesem Fach Unterricht erteilt, und wie gern sie euch noch mehr davon gelehrt hätte, wenn die Zeit nicht so knapp zugemessen wäre. Wie käme euch nun mein Vorschlag vor: Ihr fünfzehn Mädchen würdet euch in fünf Gruppen teilen; jede Gruppe übernähme einen Dichter, würde seine Biographie studieren und so viel von seinen Werken lernen, daß man ein vollständiges Bild von ihm bekäme. Ich nehme z. B. an, drei von euch hätten sich Schiller erkoren. Sie würden nun seine Biographie – die ich euch verschaffen kann – gemeinsam lesen und dann verteilen: eine müßte alle Fragen beantworten können, die seine Jugendzeit betreffen, die zweite die nächstfolgende Periode, die dritte die letzte Periode. Gedichte, die ihr früher auswendig lernen mußtet, blieben weg und weniger bekannte, vielleicht auch Monologe aus dramatischen Werken oder sogar Abschnitte aus prosaischen, würden gelernt. Kommt dann die letzte Schulwoche, so fordert ihr Fräulein von Zimmern auf zu einer außerordentlichen Literaturstunde und überreicht ihr feierlich die Liste von allem, was sie euch abfragen darf. Versteht ihr wohl, wie ich’s meine?“
Ehe noch die Mädchen antworten konnten, ertönte im Vorplatz das Glockenzeichen, die Schülerinnen der vierten Klasse erschienen unter der Türe und machten sehr erstaunte Gesichter über die Eindringlinge. Die Großen mußten das Feld räumen, und der Pfarrer sagte im Fortgehen: „Überlegt es euch, ob ihr soviel Arbeit auf euch nehmen wollt, wir sprechen noch einmal darüber.“
Erst um zwölf Uhr hatten die Mädchen Zeit, ihre Gedanken über den Vorschlag auszutauschen. Darüber waren alle einig, daß es ganz nach dem Sinne von Fräulein von Zimmern wäre, auch fürchteten sie die Arbeit nicht, es lagen noch zwei Monate bis zum Schulschluß vor ihnen, in dieser Zeit konnte man viel lernen. Aber es war doch kein fröhliches Besprechen und Beraten, denn vom Morgen her herrschte noch eine Verstimmung zwischen dem Kleeblatt und den andern Mädchen.
Hermine sagte halblaut zu Gretchen: „Es ist nicht nett für uns, mitzutun, wo man uns lieber nicht dabei hätte!“
„Ich glaube,“ sagte Gretchen gutmütig, „sie haben uns jetzt ganz gern dabei, denn sie haben uns ja selbst heruntergerufen.“
„Weil sie mußten!“