Es war der letzte Nachmittag vor dem Fest. Gretchen saß mit Ruth allein in dem Schulzimmer und ließ ihre kleine Schülerin französisch lesen. Fräulein von Zimmern trat ein. Gretchen und Ruth sahen kaum vom Buch auf, sie waren an diese Besuche gewöhnt. Aber heute kam Fräulein von Zimmern nicht als stille Zuhörerin. „Schließt nur euer Buch,“ sagte sie in ungewohnter Lebhaftigkeit, „ich bringe dir eine ganz unerwartete Botschaft, Gretchen.“ Erwartungsvoll sah diese auf. „Sieh her, ich habe wieder ein Schreiben aus dem Kabinett der Königin erhalten, ich werde es dir vorlesen.“
In dem Schreiben stand, es sei der Königin bekannt geworden, daß eine der Ersten dieser Schule zu Gunsten der Zweiten aus allzugroßer Gewissenhaftigkeit auf die Einladung zum Fest verzichtet habe. Wenn sich das tatsächlich so verhalte und die Beweggründe wirklich edle gewesen seien, so sollen hiemit die beiden Ersten dieser Klasse eingeladen sein. Eine weitere Eintrittskarte lag bei.
Gretchen sprang auf von ihrem Platz und mit dem Ruf: „Das ist herrlich, einfach herrlich!“ nahm sie die Karte in Empfang. Wem hatte sie dies unverhoffte Glück zu danken? Einen Augenblick zögerte sie, ob sie sagen dürfe, was sie dachte; als sie aber nur Freude und Güte in den Zügen ihrer gestrengen Vorsteherin las, da rief sie: „Fräulein von Zimmern, das haben Sie gemacht, Sie haben es die Königin wissen lassen!“ „Nein, mein Kind, da irrst du dich, ich habe mich selbst schon besonnen, auf welchem Weg dies in der kurzen Zeit von wenigen Tagen bis zu der Königin gedrungen sein kann. Ich denke aber, wenn du unserm lieben Herrn Pfarrer dafür dankst, wirst du wohl an den richtigen Mann gekommen sein. Es freut mich herzlich für dich, auch für Hermine kann es jetzt erst eine reine Festfreude geben. Und nun geh eilends heim zu deiner lieben Mutter, ich denke mir, sie wird kaum mehr das Nötige richten können bis morgen.“
Ruth hatte dies alles zwar schweigend, aber mit sichtbarer Freude angehört. Gretchen verabschiedete sich schnell, ohne wie sonst zu warten, bis Ruth ihre Bücher eingepackt hatte und mit ihr gehen konnte. Sie wollte keine Zeit verlieren, eilte fröhlich die Treppen hinunter. Aber doch wurde sie auf der Straße noch von Ruth überholt; die kleine Gestalt rannte an ihr vorüber, ohne sich aufhalten zu lassen. Warum es ihr heute wohl so pressiert? fragte sich Gretchen, sie ist doch nicht geladen!
Das war nun daheim eine Freude bei den Eltern, bei den Kleinen, ja auch bei Franziska! Aber auch ein Getriebe! An ein neues Kleid war ja nicht mehr zu denken, aber das alte mußte gerichtet, gestärkt und gebügelt werden, und die Unterkleider und Bänder und Handschuhe und das Blumenkränzchen, was gab es nicht alles zu besorgen! Aber alle halfen gern nach Kräften, ja sogar Herr Reinwald, der, solange seine Tochter zurückdenken konnte, noch nie von häuslichen Geschäften etwas übernommen hatte, bot seine Hilfe an zum großen Ergötzen von Gretchen. „Vater,“ sagte sie lachend, „ich möchte dich sehen, wie du die Stärke anrührst oder meine Röcke bügelst!“ „Hört, hört!“ entgegnete Herr Reinwald, „sie ist schon ganz naseweis und übermütig, weil sie zu Hof geladen ist! Nun also, wenn meine Hilfe verschmäht wird, so ziehe ich mich in mein Zimmer zurück.“