Am 7. Januar begann die Schule wieder, aber in jeder Klasse fehlten Schülerinnen, und auch die Lehrerinnen konnten nicht alle zu rechter Zeit mit dem Unterricht beginnen, denn es gab überall viele Kranke; das ganze Land hatte unter einem nassen, ungesunden Winter zu leiden.
Als Gretchen und Hermine am ersten Schultag in der Freizeit die Treppe hinuntersprangen, um sich, wie sie manchmal taten, eine Brezel zu kaufen, sahen sie unter der Schultüre eine fremde Erscheinung, ein hübsches, fein gekleidetes Fräulein, das fast noch zu jung aussah für eine Lehrerin. „Bitte, wie lange dauert die Freizeit?“ redete das Fräulein die beiden Mädchen an.
„Eine Viertelstunde.“
„Kann ich wohl in dieser Zeit bis zur Ringstraße kommen und wieder zurück? Ich bin hier noch fremd und weiß die Entfernung nicht so genau zu bemessen.“ Gretchen und Hermine meinten, die Ringstraße sei zu weit entfernt. „Ich fürchte es auch,“ sagte das Fräulein, „doch wäre ich gerne rasch in meine Wohnung gegangen, um mir ein Stückchen Brot zu holen. Ich wußte gar nicht, daß das Unterrichten so Hunger macht, ich habe heute zum erstenmal in einer Klasse unterrichtet.“
„Man kann hier unten Brot und sonst noch allerlei kaufen,“ sagte Gretchen, und Hermine fügte freundlich hinzu: „Wir wollen es Ihnen zeigen.“ „Sie sind sehr gütig,“ sagte das Fräulein, „und wenn man so fremd ist, tut einem jedes freundliche Wort wohl.“ Die drei gingen nun miteinander die Treppe hinunter, das Fräulein voran. Sie war eine vornehme und dabei auch liebliche Erscheinung; ihre Bewegungen, sowie auch ihre reine Sprache zeigten, daß sie aus feinem Hause stammte. Von den beiden Freundinnen wurde sie nun in den untern Stock geleitet, wo um diese Zeit mancherlei zur Stärkung und Erquickung bereit stand und von einem jungen Mädchen verabreicht wurde.
„Hier kann man alles kaufen, was man braucht,“ sagte Gretchen. Das Fräulein griff in ihre Tasche, aber sie zog die Hand leer heraus. „Ach,“ sagte sie, „das ist ärgerlich, ich habe meine Geldbörse daheim gelassen, so muß ich auf das Einkaufen wohl verzichten.“ Hermine hatte Geld bei sich, sie wagte aber nicht, es anzubieten. Hinter dem Rücken des Fräuleins zeigte sie es Gretchen. Diese war nicht so schüchtern. „Meine Freundin hat Geld bei sich und leiht es Ihnen gern,“ sagte sie.
„Nein, bitte, ich möchte unsere Bekanntschaft nicht gleich so prosaisch zum Geldentlehnen ausbeuten, auch habe ich nur noch eine Stunde zu geben, so lange kann ich warten.“ Hermine drängte nun unter schüchternem Erröten und freute sich, als das Fräulein endlich nachgab und etwas aus dem Beutelchen nahm, das ihr Hermine darbot. Sie machte ihren Einkauf und fragte dann: „Gehen wir noch ein wenig miteinander in den Gängen spazieren?“ Die beiden Mädchen fühlten sich geehrt, daß die junge Lehrerin sich zu ihnen gesellte, und wandelten mit ihr durch die Gänge. Sie erfuhren nun, daß ihre neue Bekannte Fräulein Geldern hieß und als Aushilfslehrerin angestellt sei für die erkrankte Lehrerin der dritten Klasse, zu der auch Herminens Schwester, Mathilde, und die kleine Ruth gehörten. Als das Zeichen gegeben wurde für den Wiederbeginn der Klassen, schied Fräulein Geldern mit dem Gruß: „Auf Wiedersehen, meine lieben, jungen Freundinnen!“
„Sie ist ganz reizend, ja entzückend!“ sagten Gretchen und Hermine zusammen und freuten sich schon auf das nächste Zusammentreffen. „Wie gut, daß du ihr etwas leihen konntest,“ sagte Gretchen, „das wird sie dir morgen zurückgeben und bei dieser Gelegenheit sprechen wir sie wieder.“