Als sie ihr Ziel erreicht hatte und in das fremde Haus eintrat, klopfte ihr doch das Herz, und leise huschte sie an der Türe des ersten Stockwerks vorbei, die die Aufschrift trug: „Kanzlei“. Sie folgte der gemalten Hand, die nach der obern Treppe zur Wohnung des Forstrats wies. Einen Augenblick hielt sie inne, ehe sie auf die Klingel drückte. „In einer Viertelstunde ist’s überstanden,“ sagte sie sich, und nun drückte sie herzhaft auf den Knopf. Einen Augenblick später stand sie im Besuchzimmer und stellte sich der Frau Forstrat vor.
Diese war eine auffallende Erscheinung, eine große, hagere Gestalt mit blassem, krankhaftem Gesicht, in das schwarze Haare ungeordnet hereinfielen. Die dunklen Augen blickten unstät, die Hände waren fortwährend in zitternder Bewegung. Gretchen war sehr betroffen über diese ungewohnte Erscheinung, sie faßte sich aber und begann die kleine Rede, die sie sich unterwegs überlegt hatte.
„Frau Forstrat,“ sagte sie, „ich möchte Sie um Verzeihung bitten, daß ich heute Ihre Ruth so unfreundlich behandelt habe, und Fräulein von Zimmern läßt Ihnen sagen, daß so etwas nie mehr vorkommen wird, und daß Ruth künftig nicht mehr von mir, sondern von einem andern Mädchen Stunden bekommen wird.“
„Ach Fräulein, das war heute nachmittag eine Szene!“ begann die Frau Forstrat. „Wie das Kind heimkommt und ich die Blutflecken sehe und auch merke, daß die Kleine verstört ist, frage ich sie aus. Sie hat nichts sagen wollen, ich habe alles erraten müssen; endlich wie ich’s heraus habe, nehme ich sie an der Hand und ziehe sie mir nach, hinunter in die Kanzlei, und sage zu meinem Mann: ‚Da siehst du, wie man unser Kind behandelt; blutig geschlagen haben sie das arme Ding in der Schule, weil’s ein paar Wörtchen nicht gekonnt hat! Da sieh, wie sie verschwollene Augen hat vor Weinen!‘ Nun hätten Sie aber meinen Mann sehen sollen in seinem Zorn! Nur die drei Worte hat er hervorgestoßen: ‚Wer hat’s getan?‘ aber so laut, daß die Kleine gleich wieder angefangen hat zu weinen vor Angst. ‚Die französische Lehrerin,‘ sage ich, und ich wollte noch mehr sagen, aber er hat uns hinausgetrieben, wir konnten nicht schnell genug aus der Türe kommen. Der Kleinen aber hat er noch zugerufen: ‚Du mußt nie mehr ins Institut zu Fräulein von Zimmern.‘“
„Ich glaube,“ sagte Gretchen, „daß sich’s Herr Forstrat nach Ihrer Beschreibung viel schlimmer vorstellt, als es in Wirklichkeit war –“
„Ja, nicht wahr? Das glaube ich auch. Er sollte das Kind auch nicht gleich aus dem Institut nehmen, es gibt ja hier doch kein besseres.“
„O bitte, Frau Forstrat, legen Sie doch ein gutes Wort ein bei Ihrem Mann.“
„Ich? Was meinen Sie, da darf ich nicht dreinreden, er hat auch gewiß schon an Fräulein von Zimmern geschrieben, das dürfen Sie glauben. Er hat das Kind gar lieb, wenn er es auch oft erschreckt durch seine Heftigkeit, und er verzeiht’s nicht, wenn man dem Kind etwas tut.“
Eine große Wanduhr schlug im Nebenzimmer sechs Uhr. Gretchen erschrak. Jeden Augenblick konnte der Forstrat kommen. Sie erhob sich mit dem traurigen Gefühl, gar nichts erreicht zu haben. „Ich muß jetzt gehen,“ sagte sie. „Wollen Sie mir verzeihen und mich bei Herrn Forstrat entschuldigen?“
„Ich kann von dieser Sache nicht mehr reden,“ antwortete die Frau Forstrat, „und Ihnen möchte ich raten, daß Sie fortgehen, ehe mein Mann aus der Kanzlei heraufkommt.“
Da sagte Gretchen kein Wort mehr, verbeugte sich und ging.
Als sich die Treppentüre hinter ihr geschlossen hatte, fühlte sie sich viel unglücklicher, als eine Viertelstunde vorher. Sie hatte gar nichts ausgerichtet bei dieser Frau, und so, wie diese ihrem Mann die Sache dargestellt hatte, mußte er natürlich aufgebracht sein gegen das Institut. Er würde sein Kind herausnehmen, und so würde Fräulein von Zimmern Ärger und Schande haben durch ihre Schuld!
Bekümmert ging Gretchen die Treppe hinunter. Als sie an der Kanzlei im ersten Stock vorbeikam, ging eben die Türe auf und zwei junge Leute, die wohl als Schreiber beschäftigt waren, kamen heraus und gingen die Treppe hinunter. Durch den Türspalt hatte sie einen großen, stattlichen Herrn gesehen – das mußte der Forstrat sein, der nun noch allein in seiner Kanzlei war.