„Ich gehe zu ihr, so bald ich kann!“ Gretchen konnte ihre Gedanken gar nicht mehr von Lene losbringen, und ganz empört erzählte sie mittags dem Vater, was sie gehört hatte. Herr Reinwald beschwichtigte. Er meinte, aller Anfang sei schwer, sie würden sich allmählich schon besser zusammenleben.
„Aber die wilden Buben!“ rief Gretchen.
„Wilde können gezähmt werden.“
„Aber die base!“
„basen können sich beruhigen,“ sagte Herr Reinwald in unerschütterlicher Ruhe. Das befriedigte Gretchen nicht, sie fand den Vater nicht teilnehmend genug.
„Die arme Lene, sie hat sogar geweint,“ sagte sie.
„Die ‚arme Lene‘ macht vielleicht auch manchen Fehler, ein Engel ist auch sie nicht. Ehe man so unbarmherzig den Stab bricht über ihre Angehörigen, müßte man doch mehr Einblick in die Verhältnisse haben.“
„Aber Lene hat ja der Mutter alles erzählt!“
„Eines Mannes Red
Ist keines Mannes Red,
Man muß sie hören alle beed.“
Dieser Spruch brachte Gretchen vollends in Verzweiflung. „O Mutter,“ rief sie, „sprich doch auch ein Wort für Lene, der Vater hat gar kein Herz mehr für sie!“ Frau Reinwald legte sich ins Mittel. „Sei nur zufrieden, ich gehe in der nächsten Zeit einmal hin und sehe, wie es steht.“
Gretchen war nun still, aber sie mußte immer an Lene denken, bis dieser Kummer durch den Gedanken an die französische Stunde verdrängt wurde, die sie heute zum erstenmal erteilen sollte. Sie hätte sich nur gefreut auf diese Stunde, wenn sie über einen Punkt beruhigt gewesen wäre: ob Fräulein von Zimmern den Stunden beiwohnen würde. Sie war überzeugt, daß sie allein ihre Sache viel besser machen würde und bald gut Freund wäre mit der fremden Kleinen, für die sie schon eingenommen war, ehe sie dieselbe kannte, aber in Gegenwart von Fräulein von Zimmern traute sie sich nichts zu. Als sie nun um vier Uhr ins Schulhaus kam, stürmten die Kinder alle die Treppe herunter, und es war ihr ganz eigen zumute, daß sie, als Lehrerin, dem Strom entgegen hinaufging.
Die dritte Klasse hatte sich eben entleert, ein Kind saß allein noch auf der letzten Bank, und Gretchen konnte leicht erraten, daß das ihre künftige Schülerin war. So einsam im Schulzimmer zurückbleiben müssen, wenn alle Kamerädinnen hinausspringen, so auf der letzten Bank sitzen und warten, bis eine ganz fremde Lehrerin kommt, das ist keine glückliche Lage, und Gretchen mit ihrem warmen Herzen fühlte das sofort. Sie hatte eigentlich warten wollen, bis Fräulein von Zimmern sie in aller Form der Schülerin vorstellen würde, aber als sie das Kind so verlassen sah, kam es ihr anders. Schnell ging sie auf sie zu, setzte sich neben sie auf die Bank, legte den Arm um sie und sagte: „Gelt, du möchtest jetzt gewiß lieber mit den andern fort, als bei mir französisch lernen? Aber ich mach’s gar nicht lang; sieh, da legen wir meine Uhr her und sowie der Zeiger da auf halb ist, hören wir auf.“
Die Kleine antwortete nicht auf diese freundliche Anrede. Gretchen erinnerte sich an Fräulein von Zimmerns Wort: „verschüchtert“. Ja, so erschien sie und so zeigte sie sich auch, als jetzt Fräulein von Zimmern eintrat. Sie blieb sitzen, während Gretchen vortrat und grüßte. Fräulein von Zimmern, die sonst jede kleine Unhöflichkeit zu tadeln pflegte, übersah es bei diesem Kind und sprach milder, als sonst ihre Art war. Gretchen merkte wohl, daß es ihr am Herzen lag, die Kleine zu ermutigen.