Als bei Betrachtung des Stundenplans die Nähstunde an die Reihe kam, seufzte Gretchen tief auf und bekannte, daß ihr diese Stunde schrecklich sei, und sie nicht begreifen könne, warum man so pedantisch darauf aus sei, daß alles fadengerade genäht werde. Der Pfarrer hatte ganz teilnahmsvoll zugehört. „Davon verstehe ich freilich nicht viel,“ sagte er, „aber es kommt mir doch vor, als sei das Wort „fadengerade“ kein so übles Wort. Sage du dir bei der nächsten verzweiflungsvollen Näherei: Da, längs dieses Fadens geht der gerade Weg, und den will ich nicht verlassen, wenn er noch so mühsam ist. Hast du das durchgeführt, so hast du eine schwere Pflicht erfüllt, trotzdem es sich nur um einen Faden handelt, und seht, das ist’s gerade, was ich möchte, daß ihr so recht erfaßt: Nichts ist so klein in unsrem Tun, daß es nicht wert wäre, gut getan zu werden, und bei dem geringsten, was wir tun, können wir Gott vor Augen und im Herzen haben.“
Als der Stundenplan durchgesprochen war, schlug es zwölf Uhr. Der Pfarrer verabschiedete sich von seinen Schülerinnen für einen ganzen Monat und wiederholte seine Aufforderung, ihm Fragen zukommen zu lassen, wenn sie irgend welche auf dem Herzen hätten.
Erst jetzt fiel es Gretchen wieder ein, daß sie nun bei Fräulein von Zimmern erscheinen sollte. Im Hinuntergehen sagte sie zu Hermine Braun: „Warte ein wenig an der nächsten Ecke auf mich, damit ich dir gleich berichten kann,“ und dann verschwand sie hinter der Türe, an der angeschrieben stand: Zimmer der Vorsteherin. Diesen Raum hatte Gretchen in den vielen Schuljahren, die sie hinter sich hatte, nur sehr selten betreten und meist mit einem gewissen Bangen, denn hieher wurden die Schülerinnen nur beschieden, wenn Fräulein von Zimmern etwas Besonderes mit ihnen zu besprechen hatte, und dieses Besondere war selten etwas Angenehmes. Heute hatte nun Gretchen das Gefühl, daß unmöglich etwas Schlimmes kommen könne, und guten Muts trat sie zu der Vorsteherin, die an einem Schreibtisch saß, nun die Feder weglegte und Gretchens Gruß erwiderte.
„Gretchen,“ begann sie dann, „deine Mutter hat mir einmal mitgeteilt, du habest große Lust, Lehrerin zu werden. Ist das noch immer so?“
„O ja,“ sagte Gretchen, „in einer solchen Schule, wie unsere ist, da möchte ich gerne Lehrerin sein.“
„Gut, ich will dir deshalb einen Vorschlag machen. Es ist eine neunjährige Schülerin neu eingetreten, Ruth Holland, Tochter des Forstrats Holland. Die Familie lebte bisher auf dem Land, und das Kind hatte in seiner Schule noch keinen französischen Unterricht. Sie sollte nun das Wenige nachlernen, was ihre Altersgenossinnen hier schon gelernt haben. Willst du nun, so kannst du dem Kind diesen französischen Unterricht erteilen, wozu ich dir Anleitung geben würde. Du kannst bei dieser Gelegenheit erproben, ob du wirklich Freude am Lehren und Geschick im Umgang mit Kindern hast. Was meinst du dazu?“
„Ich tue es furchtbar gern,“ rief Gretchen voll Eifer.
„Keine solchen Ausdrücke, Gretchen! Das Eigenschaftswort ‚furchtbar‘ ist als Bestimmungswort für ‚gern‘ nicht zulässig.“