„Ja, da hast du recht,“ sagte der Vater. „Aber wir müßten eben den neuen Besitzer bitten, ihn freundlich aufzunehmen und ihm zu sagen, daß wir ihn erwarten. Und wir werden ihm kein böses Wort geben, wie er auch sein mag, nicht wahr, Mutter?“
„Ach nein, nein! Wenn ich ihn nur wieder hätte, dann wüßte ich doch, daß er nicht auf der Landstraße hungern und frieren muß; das andre wäre dann ganz einerlei.“
Nach diesen Worten gingen die beiden ins Haus hinein, und der Junge hörte nichts mehr von ihrer Unterhaltung. Die Worte der Eltern hatten ihn beglückt und gerührt; er erkannte daraus, wie innig lieb sie ihn hatten, obwohl sie glaubten, er sei ganz verkommen. Er hatte die größte Lust, hinter ihnen herzulaufen. „Aber ach, wenn sie mich so sähen, wie ich jetzt bin, würden sie vielleicht noch viel betrübter!“ dachte er.
Während er noch überlegte, was er tun solle, kam ein Wagen dahergefahren und hielt gerade vor dem Hoftor. Beinahe hätte der Junge vor lauter Überraschung laut hinausgeschrien; denn die Reisenden, die ausstiegen und in den Hof hereinkamen, waren niemand anders, als das Gänsemädchen Åsa mit ihrem Vater. Hand in Hand gingen sie auf das Haus zu; sie schritten ganz still und ernst vorwärts, aber ein schöner, glücklicher Glanz strahlte aus ihren Augen. Als sie ungefähr mitten auf dem Hofe angekommen waren, hielt Åsa ihren Vater zurück und sagte: „Vergiß es ja nicht, Vater, du darfst weder von dem Holzschuh ein Wort erwähnen, noch von den Wildgänsen, noch von dem kleinen Knirps, der Nils Holgersson so aufs Haar geglichen hat, daß er, wenn es nicht Nils selbst gewesen ist, doch in irgendeinem Zusammenhang mit ihm gestanden haben muß.“
„Nein, nein, ich will gewiß nichts davon sagen,“ erwiderte Jon Assarsson. „Ich werde nur sagen, ihr Sohn sei dir mehrere Male eine große Hilfe gewesen, und wir kämen deshalb, zu fragen, ob wir ihnen dafür nicht auch eine Gefälligkeit erweisen könnten. Seit ich die Grube da droben entdeckt habe, bin ich ja ein wohlhabender Mann geworden und habe mehr, als ich brauche.“
„Ja, ich weiß wohl, daß du deine Worte gut zu setzen verstehst,“ sagte Åsa, „und ich meinte auch nur, du solltest dieses eine verschweigen.“
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Sie traten ins Haus hinein, und der Junge wäre schrecklich gerne mitgegangen, um zu hören, was drinnen gesprochen wurde. Aber er wagte sich nicht über den Hofplatz hinüber. Schon nach ganz kurzer Zeit kamen die beiden wieder heraus, und Vater und Mutter begleiteten sie bis ans Gittertor.
Als die beiden Besuche wieder weggefahren waren, blieben die Eltern an der Pforte stehen und sahen ihnen nach.
„Nun will ich nicht mehr so betrübt sein,“ sagte die Mutter. „Jetzt, wo ich so viel Gutes von Nils gehört habe.“
„Eigentlich haben sie uns aber gar nicht so viel von ihm erzählt,“ erwiderte der Vater nachdenklich.
„Wie, ist es nicht genug, wenn sie einzig und allein deshalb hergereist sind, uns ihre Hilfe anzubieten, nur weil unser Nils ihnen so große Dienste geleistet hat? Ich meine übrigens, du hättest ihr Anerbieten annehmen sollen, Vater!“
„Nein, Mutter, ich will von niemand Geld annehmen, weder als Geschenk noch als Darlehen. In erster Linie will ich jetzt meine Schulden los werden, und dann wollen wir uns wieder heraufbringen. Beim Licht besehen sind wir doch eigentlich noch gar nicht so steinalt, wie, Mutter?“ rief der Vater, und als er dies sagte, lachte er herzlich.
„Ich glaube wahrhaftig, du meinst, es sei ein Spaß, den Hof zu verkaufen, auf den wir doch so viel Mühe und Arbeit verwendet haben!“ versetzte die Mutter.
„Ach, du weißt wohl, warum ich lache, Mutter. Was mich so schwer bedrückt hat, daß ich zu nichts mehr Lust und Kraft hatte, war ja der Gedanke, der Junge sei ein Taugenichts geworden. Nun ich aber weiß, daß er sich gut gemacht hat, jetzt sollst du sehen: Holger Nilsson ist noch etwas wert!“
Die Mutter ging ins Haus hinein, Nils Holgersson aber versteckte sich rasch in einen Winkel, denn der Vater trat in den Stall, um nach dem Pferd zu sehen. Er ging in den Stand zu ihm hinein und hob wie gewöhnlich dessen kranken Fuß in die Höhe, um zu sehen, ob er denn nicht entdecken könnte, was ihm fehle.
„Aber was ist denn das?“ sagte der Vater. Auf dem Huf waren einige Buchstaben eingeritzt. „Nimm das Eisen ab!“ las er und sah sich verwundert und überrascht nach allen Seiten um. Schließlich befühlte und betrachtete er die untere Seite des Hufes sehr genau. „Ich glaube wahrhaftig, es sitzt etwas Spitziges drin,“ murmelte er.
Während der Vater mit dem Pferd beschäftigt war und der Junge in dem Winkel verborgen saß, kamen noch mehr Besuche auf den Hof. Mit diesen verhielt es sich aber folgendermaßen. Als der Gänserich Martin seiner alten Heimat so nahe war, hatte er der Lust nicht widerstehen können, seine Frau und seine Kinder den frühern Gefährten auf dem Gütchen vorzustellen; und so hatte er Daunenfein und die jungen Gänse einfach mitgenommen und war mit ihnen hierhergeflogen.
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Als nun der Gänserich durch die Luft daherkam, war auf dem ganzen Hofe kein Mensch zu sehen; er ließ sich deshalb ruhig nieder und zeigte Daunenfein, wie herrlich er es als zahme Gans gehabt hatte. Nachdem sie sich den Hofplatz besehen hatten, bemerkte er, daß die Kuhstalltür offen stand.
„Kommt einen Augenblick mit herein,“ sagte er, „dann könnt ihr sehen, wo ich früher gewohnt habe. Das war etwas andres, als sich in Teichen und Sümpfen aufzuhalten, wie wir es jetzt tun.“
Der Gänserich stand auf der Schwelle und schaute in den Kuhstall hinein. „Es ist kein Mensch da,“ sagte er. „Komm, Daunenfein, ich zeige dir den Gänsestall. Hab keine Angst, es ist nicht die geringste Gefahr dabei.“
Und so gingen der Gänserich, Daunenfein und alle sechs Jungen in den Gänsestall hinein, um sich anzusehen, in welchem Glanz und Überfluß der große Weiße gelebt hatte, ehe er sich der Schar der Wildgänse anschloß.
„Ja, seht, so hatten wir es. Hier war mein Platz, und dort stand der Freßtrog, der immer mit Hafer und Wasser gefüllt war,“ sagte der Gänserich. „Ei der Tausend, es ist wahrhaftig auch jetzt noch etwas drin!“ Damit schoß er zum Troge hin und fraß Hafer in sich hinein.
Aber Daunenfein war unruhig. „Laß uns jetzt wieder gehen!“ sagte sie.
„Nur noch ein paar Körner!“ erwiderte der Gänserich. In demselben Augenblick jedoch stieß er einen Schrei aus und eilte dem Ausgang zu. Aber es war zu spät, die Tür fiel ins Schloß, Holger Nilssons Frau stand draußen und schob den Riegel vor; sie waren eingesperrt.
Holger Nilsson hatte ein spitziges Stück Eisen aus dem Fuß des Rappens herausgezogen und streichelte das Tier nun ganz erfreut, als seine Frau eilig in den Pferdestall hereintrat. „Komm, Vater!“ rief sie. „Dann sollst du sehen, was ich für einen Fang gemacht habe!“
„Nein, wart ein wenig, Mutter, und sieh erst hierher!“ sagte Holger Nilsson. „Ich hab entdeckt, was dem Pferde gefehlt hat.“
„Ich glaube, das Glück hat sich gewendet und kehrt wieder bei uns ein!“ rief die Frau. „Denk dir nur, der große Gänserich, der im Frühjahr verschwunden ist, muß mit den Wildgänsen davongeflogen sein! Er ist zurückgekommen und hat sieben Wildgänse bei sich. Sie gingen in den Gänsestall hinein, und ich habe sie alle miteinander darin eingeschlossen.“
„Das ist doch merkwürdig,“ sagte Holger Nilsson. „Aber weißt du, was das beste an der Sache ist, Mutter? Daß wir nun nicht mehr zu glauben brauchen, unser Junge habe die Gans mitgenommen, als er von daheim fortgelaufen ist.“
„Ja, da hast du recht, Vater. Aber ich glaube, wir müssen die Gänse heute abend noch schlachten. In ein paar Tagen ist der Martinstag, und wenn wir die Gänse dazu noch in die Stadt bringen wollen, müssen wir uns beeilen.“
„Es kommt mir geradezu wie ein Unrecht vor, wenn wir den Gänserich [500] schlachten, da er doch mit so einer großen Gesellschaft zu uns zurückgekehrt ist,“ sagte Holger Nilsson.
„Wenn die Zeiten besser wären, würde ich ihn gern am Leben lassen, aber wenn wir doch vom Hofe fort müssen, können wir die Gänse ja nicht behalten,“ entgegnete die Frau.
„Ja, das ist allerdings wahr.“
„Komm und hilf mir, sie ins Haus hineinzutragen!“ sagte die Mutter.
Sie verließen miteinander den Hof, und einen Augenblick später sah der Junge seinen Vater mit Daunenfein unter dem einen Arm und dem Gänserich unter dem andern in Gesellschaft der Mutter über den Hof kommen. Der Gänserich schrie: „Däumling, komm und hilf mir!“ wie immer, wenn ihm eine Gefahr drohte, obgleich er ja nicht wissen konnte, daß der Junge in der Nähe war.
Nils Holgersson hörte ihn wohl schreien, blieb aber trotzdem vor dem Stalle stehen, nicht weil er wußte, daß es für ihn selbst gut wäre, wenn der Gänserich geschlachtet würde – daran dachte er in diesem Augenblick nicht einmal –, sondern weil er sich, wenn er die Gans retten wollte, vor seinen Eltern sehen lassen mußte, und dazu konnte er sich nicht entschließen. „Sie haben es ohnedies schon schwer genug,“ dachte er. „Sollte ich wirklich dazu verurteilt sein, ihnen auch noch diesen Kummer zu bereiten?“
Aber als sich die Tür hinter dem Gänserich geschlossen hatte, kam Leben in den Jungen. Schnell wie der Blitz lief er über den Hofplatz, sprang auf die eichene Schwelle vor der Haustür und von da in den Flur hinein. Aus alter Gewohnheit zog er die Holzschuhe aus und näherte sich der Stubentür. Aber er empfand noch immer den größten Widerwillen, sich so vor seinen Eltern sehen zu lassen, und hatte nicht die Kraft, die Hand aufzuheben und anzuklopfen.
„Aber es handelt sich doch um den Gänserich Martin,“ dachte er. „Seit du zum letzten Male hier gestanden hast, ist er immer dein bester Freund gewesen.“
In einem Nu durchlebte Nils Holgersson in Gedanken alles wieder, was er und der Gänserich auf gefrorenen Seen und stürmischen Meeren und zwischen gefährlichen Raubtieren miteinander durchgemacht hatten. Sein Herz floß über vor Dankbarkeit und Liebe; er überwand sich und klopfte an die Tür.
„Ist jemand da?“ fragte der Vater, indem er die Tür öffnete.
„Mutter, du darfst der Gans nichts tun!“ rief der Junge; und zugleich stießen der Gänserich Martin und Daunenfein einen Freudenschrei aus; sie lagen gebunden auf einer Bank, und an dem Schreien hörte man, daß sie noch am Leben waren.
Wer aber auch einen Freudenschrei ausstieß, das war die Mutter. „Nein, wie groß und schön du geworden bist!“ rief sie.
Der Junge war nicht eingetreten, sondern auf der Schwelle stehen geblieben, wie jemand, der seines Empfangs nicht ganz sicher ist.
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„Gott sei Lob und Dank, daß ich dich wieder habe!“ rief die Mutter. „Komm herein! Komm herein!“
„Ja, Gott sei Lob und Dank!“ sagte auch der Vater; mehr konnte er nicht herausbringen.
Aber der Junge zögerte noch immer auf der Schwelle. Wie war es nur möglich, daß sich die Eltern über das Wiedersehen freuten, wo er doch so aussah! Aber da kam die Mutter herbei, schlang ihre Arme um ihn und zog ihn in die Stube herein; und nun merkte der Junge, wie die Sache sich verhielt.