Eines schönen Tages, als sich der Sommer gerade wieder in vollem Behagen in seinem Reich umsah, erblickte er plötzlich den Herbst, der in seinem rotgoldenen Prachtkleid einhergewandert kam. Schnell küßte da der Sommer noch einmal seine Lieblinge, die Rosen, daß sie wieder aufblühten wie im Juni, und dann zog er, große Rosensträuße in den Händen tragend, von den Höhen herab, aus den Tälern heraus, dem heißen Süden zu.
Der Herbst trat seine Herrschaft an. Zu seinem Empfang blühten in den Gärten Astern und dicke Georginen auf, die Herbstzeitlosen standen blaß und zart auf den Wiesen, und Äpfel, Birnen und Pflaumen bekamen große Lust, von den Bäumen herab ins Gras zu fallen.
Für die Oberheudorfer Kinder war das eine vergnügliche Zeit. Jedes Haus hatte sein Gärtchen, jedes Gärtchen hatte seine Obstbäume, und auf der Landstraße nach Niederheudorf standen die Pflaumenbäume wie Seite 230Soldaten. Sie hingen so voll, daß niemand schalt, wenn sich die Buben und Mädel die herabgefallenen Früchte auflasen. Am Buchberg waren die Haselnüsse reif; die Kinder zogen miteinander zur Nußernte hinaus, was freilich die Eichkätzchen im Walde höchst überflüssig fanden. So ein alter Eichkatzenonkel sagte einmal ingrimmig: „Was die Oberheudorfer Buben und Mädel futtern können, das ist unglaublich. Ob andere Kinder wohl auch so gern etwas Gutes essen?“
An einem dieser reichen, schönen Herbsttage, an dem der Himmel so klar und blau war wie ein einziger großer Saphir, gingen Muhme Lenelies und Traumfriede nach Schloß Friedheim. Die Frau Gräfin hatte sagen lassen, sie möchten beide an diesem Nachmittag zu ihr kommen. Sie wußten beide nicht, warum, und sie waren beide ein wenig unruhig. „Vielleicht hat sie Friedes Arbeit gelesen und will ihm etwas sagen,“ dachte die Muhme, und der Bube hatte den gleichen Gedanken, nur meinte er, loben würde ihn die Frau Gräfin sicher nicht. Ziemlich bedrückt ging er hinter der Muhme her, als ein Diener beide in ein großes Zimmer ließ. „Gib mir ein Küßchen, gib mir ein Küßchen!“ tönte ihnen gleich eine schrille Stimme entgegen, und Muhme Lenelies sagte lachend: „Nä, das ist richtig wieder der verrückte Vogel!“
Seite 231„Der Papagei!“ jubelte Friede, der alle Scheu vergaß. Bewundernd schaute er den bunten Vogel an. „Wie schön er ist!“
„Meine Mimi ist mir lieber,“ sagte Muhme Lenelies, an ihre lustige kleine Amsel denkend. „Das möchte ich nicht, so 'n Vogel, der mich jeden Tag um einen Kuß bittet.“
„Schafskopp, Schafskopp,“ schnarrte der Papagei so laut, daß die Muhme ordentlich erschrak.