"Ach, es ist grausam, sich sein Bündel wieder auf den Rücken zu schnüren und in den Alltag zurückzukehren", seufzte Meg am nächsten Morgen, während sie an all ihre unangenehmen Aufgaben dachte.
"Ja, ich wünschte, es wäre immer Weihnachten oder Neujahr", gähnte Jo.
"Wir hätten dann zwar sicherlich nicht immer so viel Vergnügen wie die letzten Tage, aber es wäre herrlich, öfters so feines Essen zu genießen und auf Bälle zu gehen. Ich hätte so gern etwas Luxus!", träumte Meg, während sie prüfte, welches ihrer Kleider weniger schäbig war. "Ach, es macht sowieso keinen Sinn, sich hübsch zu machen, wenn mich nur diese vier Ungeheuer der Kings sehen. Ich werde weiter jeden Tag schuften, bis ich eine alte Jungfer bin und mich keiner mehr heiraten will."
Beim Frühstück herrschte gedrückte Stimmung. Betty hatte Kopfschmerzen und keinen Appetit. Sie legte sich aufs Sofa und ließ sich von ihren drei Kätzchen aufheitern.
Amy zog eine finstere Miene, weil sie wieder nicht für die Schule gelernt hatte. Mrs March war damit beschäftigt, einen Brief zu Ende zu schreiben und selbst Hanna brummte missmutig vor sich hin. Nur Jo pfiff laut und falsch, während sie sich ihre Schuhe anzog.
Sie bemerkte die genervten Blicke ihrer Schwestern und in diesem Augenblick riss nicht nur ihr zweiter Schnürsenkel sondern auch ihr Geduldsfaden: "Ihr seid die schlecht gelaunteste Familie, die ich kenne!", schrie sie laut.
"Und du bist die nervigste Person, die ich kenne", schimpfte Amy zurück. Dabei tropften ein paar Tränen auf ihre Schiefertafel.
"Mädchen, könnt ihr nicht mal ruhig sein! Ich muss wirklich diesen Brief zu Ende bringen", rief Mrs March und strich ärgerlich einen falschen Satz durch.
"Los, lasst uns gehen. Gute Besserung, Betty. Viel Erfolg in der Schule, Amy!" Jo packte Meg am Arm und zog sie Richtung Ausgangstüre. "Auf Wiedersehen, Mutter! Wir waren heute Morgen wirklich unausstehlich, aber wir werden als Engel zurückkommen", versprach Jo.
Die beiden Schwestern gingen noch einen Stück des Weges gemeinsam. Als sie sich trennten, dachte Meg noch mal an die Seiten der Pilgerreise, die sie am Morgen gelesen hatte, und nahm sich fest vor, den Rest des Tages ohne Murren zu verbringen, sodass ihr Vater stolz auf sie sein könnte.
Mr March hatte sein gesamtes Vermögen verloren, als er einem Freund aus finanziellen Nöten helfen wollte. Das war ein schwerer Schlag für die Familie. Die beiden ältern Schwestern schlugen damals vor, eine leichte Arbeit anzunehmen um so einen kleinen Beitrag zum Familieneinkommen leisten zu dürfen.
Meg fand eine Stelle bei der wohlhabenden Familie King in der Nachbarschaft. Ihre Aufgabe war es, auf deren vier kleine Kinder aufzupassen und ihnen gutes Benehmen beizubringen, was wirklich nicht einfach war. Vor allem neidete sie den Kindern den Luxus schöner Kleider und sie fragte sich oft, warum das Leben so ungerecht war und warum nicht wieder alles so wie früher sein konnte.
Jo landete als Gesellschafterin bei der reichen, alten Tante March, die ganz allein in ihrem großen Haus lebte und nicht mehr sehr gut auf den Beinen war. Die kinderlose Tante hatte angeboten, eine der vier Schwestern zu adoptieren, als die Probleme begannen, doch die Marchs wollten um keinen Preis eines ihrer Kinder weggeben. Daraufhin war die alte Dame sehr beleidigt gewesen und sprach lange Zeit kein Wort mehr mit ihren Verwandten.
Durch Zufall traf Tante March eines Tages Jo bei Bekannten. Die temperamentvolle Art gefiel der alten Lady. Da bot sie Jo an, ihr gegen eine kleine Entlohnung Gesellschaft zu leisten und etwas zur Hand zu gehen.
Jo war über diesen Job nicht sehr begeistert, kam aber zur Verwunderung aller, ziemlich gut mit der launischen Verwandten klar. Auch wenn sie öfters stritten, konnte Jo Tante March nie lange böse sein, denn insgeheim bewunderte sie die alte Lady.
Das Beste bei Tante March war die riesige, verstaubte Bibliothek des verstorbenen Onkels. Immer wenn die alte Dame ein Nickerchen machte, schlich Jo in die Bibliothek, machte es sich im Schaukelstuhl bequem und verschlang die Bücher.
Leider wachte Tante March immer an der spannendsten Stelle auf und Jo musste wieder schrecklich langweilige theologische Abhandlungen vorlesen.
Betty war so schüchtern und menschenscheu, dass die Schule für sie eine entsetzliche Qual war. Als sie immer mehr litt, beschlossen die Marchs, sie zu Hause selbst zu unterrichten. Jetzt, wo der Vater im Krieg war und die Mutter viel im Lazarett arbeitete, halfen ihre Schwestern ihr beim Lernen. Daneben half Betty Hanna fleißig im Haushalt, damit das Heim sauber und gemütlich war, wenn die anderen von der Arbeit kamen.
Betty fühlte sich eigentlich nie einsam, denn sie hatte ganz besondere Freundinnen. Sie kleidete ihre Puppen jeden Tag an, ging mit ihnen im Garten spazieren und sang ihnen vor. Ihre zweite große Liebe galt den Kätzchen, die erst fünf Wochen alt waren. Betty lebte zwar recht zufrieden in ihrer eigenen Welt, aber auch sie hatte ihre Sorgen.
Am meisten wünschte sie sich wieder Musikunterricht zu nehmen und endlich ein gescheites Klavier zu besitzen. Niemand sah ihre Tränen, wenn sie versuchte dem kaputten Klimperkasten zu Hause ein paar melodische Töne zu entlocken.
Würde jemand Amy fragen, was sie als schlimmste Belastung in ihrem noch so jungen Leben hielt, würde sie sicher antworten: "Meine Nase." Sie war als kleines Kind einmal hingefallen und hatte sich ihre kleine Stupsnase so ungeschickt gestoßen, dass sie gebrochen war. Seither hatte sie einen klitzekleinen Höcker auf der Nase, den man kaum sah, doch Amy fand ihre Nase krumm, unerträglich platt und einfach hässlich.
Amy hatte ein großes Zeichentalent und malte alles, was ihr in die Quere kam. Zu jeder unpassenden Gelegenheit rutschten ihr Zettel mit bissigen Karikaturen ihrer Mitschülerinnen und Lehrer aus ihren Schulbüchern. Der Unterrichtsstoff interessierte sie wenig. Nur ihr tadelloses Benehmen rettete sie vor einem Hagel an Abmahnungen.
Wegen ihrer aufgetragenen Kleider, musste Amy oft eine Menge Hohn ertragen, was zwar schmerzlich war, aber auch verhinderte, dass Amy eine völlig verzogene Göre wurde.
Meg war Amys engste Vertraute. Die ruhige Betty schüttete ihr Herz lieber bei der wilden Jo aus. Sie bewunderte Jos Selbstbewusstsein und ließ sich gerne von ihr etwas Mut einflößen.
Als sie am Abend zusammen saßen, erzählten sie, was sie am Tag erlebt hatten. Jo berichtete, wie Tante March heimlich in einem Abenteuerroman weiter las, den Jo gerade am Lesen war. Meg erzählte von den Kings, bei denen der älteste Sohn etwas Furchtbares angestellt hatte und der ganze Tag eine sonderbare Stimmung herrschte. Sie hatte sich aber nicht getraut nachzufragen.
Betty wusste eine besonders rührende Geschichte zu erzählen. Als sie am Morgen beim Fischhändler war, unterhielt der sich mit Mr Laurence. In dem Moment kam eine arme Frau herein und fragte, ob sie den Laden putzen dürfe und als Lohn einen Fisch bekäme. Ihre Kinder zu Hause hätten großen Hunger. Der Fischhändler brummte ein "Nö". Als die Frau schon wieder gehen wollten, angelte Mr Laurence mit dem krummen Ende seines Spazierstockes einen dicken Fisch aus dem Becken, gab ihn der Frau und sagte: "Kochen Sie den hier."
"Die Frau sah so witzig aus, wie die den glitschigen Fisch wie ein Baby in ihren Armen wiegte."