In den nächsten Tagen schwärmten die Mädchen um ihren Vater wie Bienen um ihre Königin. Mr March saß im Lehnstuhl neben Betty, die auf dem Sofa lag, und die Familie ließ es den beiden Genesenden an nichts fehlen.
Doch trotz aller Freude fehlte etwas zum perfekten Glück. Niemand sprach darüber, aber jeder spürte es. Alle warfen sich sorgenvolle Blicke zu, wenn sie Meg beobachteten. Jo gab Mr Brookes Regenschirm, den er im Gang vergessen hatte, einen wütenden Tritt.
Meg wirkte abwesend und wurde nervös, wenn es an der Tür klingelte. Jo, fragte höhnisch: "Na, erwartest du deinen John?"
"Er ist nicht mein John", fauchte Meg. "Hör auf, mich zu nerven. Und sei freundlicher zu ihm, er hat dir schließlich nichts getan."
"Doch, er will dich uns wegnehmen. Am Schlimmsten ist allerdings die Ungewissheit. Warum entscheidest du dich nicht endlich und sagst ihm, was du willst."
"Ich kann gar nichts entscheiden, bevor er nichts sagt. Und das wird er nicht, weil Vater denkt, dass ich noch zu jung bin. Und damit ist das Thema beendet."
"Was wäre denn, wenn er etwas sagen würde. Du würdest doch nur feuerrot anlaufen, dahin schmelzen und verlegen einwilligen, statt ihm eine Abfuhr zu erteilen."
"Ich bin nicht so naiv, wie du denkst! Ich weiß sehr genau, was ich ihm sagen würde."
"Und was wäre das?"
"Dasselbe, was ich bereits in dem Brief geschrieben habe, den Laurie…" Weiter kam sie nicht, denn in diesem Moment klingelte es an der Tür. Schnell flüchtete sie sich zurück auf ihren Stuhl und vertiefte sich eifrig in ihre Näharbeit.
Jos Lachen wich einem grimmigen Gesicht, als sie die Schritte auf dem Flur erkannte.
"Guten Tag. Ich bin nur gekommen, um… meinen Regenschirm zu holen, äh… das heißt, um nach ihrem Vater zu sehen", stotterte Brooke verlegen.
"Ich gebe Vater Bescheid, dass Sie da sind." Jo nutzte die Gelegenheit zu verschwinden und ließ Meg mit Mr Brooke alleine, damit sie gleich ihre Rede loswerden konnte.
Doch Meg wollte sich ebenfalls verdrücken. "Mutter will Sie bestimmt auch begrüßen. Setzen Sie sich doch. Ich sehe nach ihr."
"Gehen Sie nicht! Haben Sie etwa Angst vor mir, Meg?", fragte Mr Brooke und sah dabei so gekränkt aus, dass Meg dachte, sie sei sehr unhöflich gewesen. Die Röte schoss ihr ins Gesicht, denn er hatte sie noch nie Meg genannt, und sie war überrascht, wie süß dies aus seinem Mund klang.
"Wie könnte ich Angst vor Ihnen haben, wo Sie doch so freundlich zu Vater waren. Ich wünschte, ich könnte Ihnen irgendwie dafür danken."
"Das können Sie. Soll ich Ihnen sagen, wie?" Mr Brooke umfasste Megs zierliche Hand mit beiden Händen und sah sie aus seinen großen braunen Augen so verliebt an, dass Meg das Herz bis zum Hals schlug.
"Oh, bitte nicht!", flehte Meg verlegen und versuchte, ihre Hand wegzuziehen.
"Ich möchte Sie nicht drängen. Ich möchte nur wissen, ob Sie mich ein wenig mögen, Meg. Denn ich liebe Sie", sagte Mr Brooke zärtlich.
Dies wäre der Moment für Megs vorbereitete Rede gewesen, doch Meg hielt sie nicht. Sie hatte jedes Wort vergessen, schlug die Augen nieder und murmelte leise: "Ich weiß es nicht."
Mr Brooke lächelte und umschloss Megs Hand ein bisschen fester. "Würden Sie versuchen, es herauszufinden? Ich muss es einfach wissen."
"Aber ich bin zu jung…", stammelte Meg und wunderte sich, warum es ihr so warm ums Herz wurde.
"Ich kann warten. Und inzwischen könnten Sie lernen, mich gern zu haben. Wäre das eine schwierige Aufgabe für Sie, Meg?"
Seine Stimme klang flehentlich, doch als Meg den Kopf für einen schüchternen Blick anhob, entdeckte sie ein siegessicheres Lächeln auf seinen Lippen. Das reizte Meg, und sie musste daran denken, dass ihre Freundin immer predigte, man müsse Männer zappeln lassen. Sie spürte ihre Macht und da sich nicht wusste, was sie tun sollte folgte sie einer launischen Eingebung.
"Ich entscheide mich aber nicht dafür. Bitte gehen Sie!"
Mr Brooke wirkte, als würden ihm gerade die Trümmer seines Luftschlosses um die Ohren fliegen. So hatte er Meg noch nie erlebt. "Ist das ihr Ernst?"
"Ja. Ich möchte, dass sie jetzt gehen."
Mr Brooke wurde blass und sah Meg so wehmütig an, dass sie sofort wieder Mitleid bekam. Doch in diesem Moment trat Tante March ins Zimmer. Sie hatte von der Heimkehr ihres Neffen gehört und wollte ihn besuchen. Meg fuhr zusammen, als hätte sie einen Geist gesehen.
"Was geht hier vor sich?", fragte sie noch grimmiger als sonst und ließ ihren Adlerblick musternd zwischen dem blassen Mr Brooke und der hochroten Meg schweifen.
"Das ist Mr Brooke, ein Freund von Vater…", stammelte Meg, und Mr Brooke flüchtete mit einem grüßenden Nicken schnell ins Nebenzimmer.
"Brooke. Der Hauslehrer dieses Jungen? Ich verstehe. Ich weiß über alles Bescheid. Jo las mir einen Brief von eurem Vater vor und rutschte versehentlich in einen Absatz, der nicht für mich bestimmt war. Natürlich habe ich sie so lange ausgequetscht, bis ich im Bilde war. Du hast doch hoffentlich nicht eingewilligt?"
"Pst. Er könnte dich hören."
"Du willst doch nicht diesen Nichtsnutz heiraten. Wenn ja, erbst du von mir keinen Penny."
Tante Marchs ungebetene Einmischung weckte in Meg den Widerspruchsgeist. "Ich heirate, wen ich will, und du vererbst Geld, wem du willst", war ihre schnippische Antwort.
Tante March sah Meg erstaunt an. So widerspenstig kannte sie sie nicht. Meg erkannte sich selbst kaum, doch sie fand, sie müsse John und das Recht, zu lieben, wen sie wollte, verteidigen.
"Ich könnte keine bessere Partie finden. John ist nett, klug, tatkräftig und mutig. Er hat viele Talente und ist bereit hart zu arbeiten. Jeder mag und respektiert ihn, und ich bin stolz, dass er sich so viel aus mir macht, obwohl ich arm, jung und kaum gebildet bin."
"Er weiß eben, dass du reiche Verwandte hast."
"Wie kannst du so etwas sagen. Mein John würde nie wegen Geld heiraten. Man kann auch arm glücklich sein. Und mit ihm werde ich es sein, denn er liebt mich und ich…" Meg fiel plötzlich siedendheiß ein, dass John ins Nebenzimmer geflüchtet war und dort womöglich alles mit anhören konnte.
Tante March war sehr wütend, doch irgendetwas in Megs glücklichem Gesicht machte die einsame, alte Dame traurig. "Ich will mit der ganzen Sache nichts zu tun haben. Ich bin enttäuscht von dir und habe jetzt auch keine Lust mehr, deinen Vater zu besuchen."
Tante March rauschte aus dem Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Meg wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Doch bevor sie wusste, was sie jetzt tun sollte, kam Mr Brooke aus dem Nebenzimmer.
"Ich wollte nicht lauschen, aber ich konnte alles hören, Meg. Vielen Dank, dass Sie mich so verteidigt haben. Und ich danke Tante March, dass ich jetzt Ihre wahren Gefühle kenne."
"Darüber war ich mir selbst noch nicht klar, bis Tante March so schlecht von Ihnen sprach", erklärte Meg.
"Ich muss also nicht gehen? Ich darf auf Sie warten und glücklich werden?"
Meg hauchte leise: "Ja, John."
Also Jo die Türe öffnete, war sie vor Schreck sprachlos. Mr Brooke saß mit überglücklichem Gesicht auf dem Sofa, auf seinem Knie eine ihn verliebt anhimmelnde Meg.
Meg rannte davon, die Treppen hinauf zu ihren Eltern, um empört Bericht zu erstatten. Alle freuten sich und gingen nach unten. Nur Jo ließ sich wütend auf ihr Bett fallen.
"Sind drei Jahre nicht eine lange Wartezeit bis zu eurer Heirat?", wollte Amy von Meg wissen.
"Ich muss noch so viel lernen, dass mir die Zeit bis zu meinem zwanzigsten Geburtstag bestimmt nicht lang vorkommt", antwortete Meg.
"Du musst nur warten, ich kümmere mich um alles", erwiderte Mr Brooke.
Erst als Laurie erschien, atmete Jo erleichtert auf. Endlich einer, mit dem sie vernünftig reden kann.
"Was ist mir dir? Du siehst so unglücklich aus", flüsterte er ihr zu.
"Ich bin ganz und gar gegen diese Hochzeit. Aber ich werde das durchstehen müssen und kein Wort mehr dagegen sagen. Du weißt gar nicht wie hart es für mich ist, Meg ist meine beste Freundin."
"Aber du hast doch mich. Ich bin immer für dich da - ein ganzes Leben lang."
"Ich weiß und dafür bin ich dir sehr dankbar."
"Jetzt schau nicht so traurig. Meg ist glücklich und Brooke wird gut für sie sorgen. Und in drei Jahren, wenn sie heiraten, bin ich mit dem College fertig, und wir beide machen zusammen eine weite Reise, wohin du willst."
"Du bist ein Schatz", flüsterte Jo und gab Laurie einen scheuen Kuss auf die Wange.