Seit York in London lebte, hatte Reuben Smith die Oberaufsicht über die Stallungen. Es konnte kaum einen zuverlässigeren Nachfolger geben als ihn. Er war ein wahrer Pferdekenner. Und weil er zwei Jahre lang bei einem Tierarzt gearbeitet hatte, konnte er uns sogar behandeln. Er war ein ansehnlicher Mann, zudem gebildet und er konnte eine Kutsche meisterhaft fahren. Er war beliebt, besonders bei uns Pferden.
Anfangs wunderten wir uns, weshalb er keine führende Position einnahm, sondern unter York arbeitete. Wahrscheinlich lag das an seinem einzigen großen Laster - dem Alkohol! Er konnte sich monatelang zusammenreißen, doch wenn er dann seiner Sucht verfiel, versetzte er selbst seine Frau in Angst und Schrecken. Allerdings war er so fleißig, dass York ihn einige Male deckte, damit die Herrschaften nichts bemerkten.
Vom alten Max hatte ich erfahren, dass Reuben schon einmal entlassen worden war. Eines Abends sollte Reuben die Herrschaften vom Ball abholen. Er war derart angetrunken, dass ihm die Zügel entglitten und der Herr die Kutsche selbst lenken musste. Natürlich hatte das ein Nachspiel.
Ab diesem Tag war seine Alkoholsucht bekannt, seine Familie musste aus dem hübschen Häuschen ausziehen und Reuben wurde erst wieder eingestellt, kurz bevor Ginger und ich kamen. York hatte sich für ihn eingesetzt und ihm das Versprechen abgenommen, nie wieder Alkohol zu trinken. Und daran hatte sich Reuben gehalten, sodass ihm nun während Yorks Abwesenheit die Stelle des ersten Stallknechts übertragen wurde.
Ende Mai sollte die Familie des Grafen aus London zurückkommen. Jetzt war Anfang April und es gab viel zu tun auf dem Gut. Es war gerade die Zeit, als Blantyre wieder zurück in sein Regiment musste. Deshalb spannte Reuben den gerade reparierten leichten Wagen an, da man ihn eh in der Stadt abgeben musste. Ich wurde vor die Kutsche gespannt, damit man Blantyre in die Stadt bringen, den Wagen abgeben und anschließend mit mir nach Hause reiten konnte. Blantyre drückte Reuben am Bahnhof ordentlich Trinkgeld in die Hand, mit der Bitte, auf Lady Anne gut aufzupassen und dringend darauf aufzupassen, dass Black Auster von niemandem verdorben würde.
Reuben gab die Kutsche bei der Werkstatt ab und wir ritten weiter zum Gasthof "Weißer Löwe". Dort übergab er die Zügel dem Stallburschen und bat ihn, mich zu füttern. Um vier Uhr solle er mich bereithalten. Dass eines meiner Hufeisen locker saß, bemerkte der Stallbursche erst kurz vor vier. Als Reuben eine Stunde später herauskam, machte er ihn darauf aufmerksam. Doch Reuben winkte ab und meinte, dass er noch gut heimkäme. Er würde noch ein Stündchen bleiben, weil er alte Freunde getroffen hätte.
Seine Stimme klang aufdringlich und laut. Auch passte es gar nicht zu ihm, sich nicht um mein Hufeisen zu kümmern. Außerdem kam er nicht wie versprochen um sechs Uhr heraus sondern erst um neun. Der Gastwirt mahnte ihn noch zur Vorsicht. Doch Reuben fluchte nur ärgerlich. Er schien ziemlich grantig zu sein.
Gegen seine sonstige Gewohnheit benutzte er die Peitsche häufig, obwohl ich bereits im schnellsten Galopp ritt. Es war eine mondlose Nacht. Die Straße war steinig und es war klar, dass sich bei dieser Geschwindigkeit und diesem Untergrund mein Hufeisen lockern musste. Plötzlich löste es sich ganz.
Wäre Reuben nüchtern gewesen, hätte er an meinem Schritt bemerkt, dass etwas nicht stimmt. Doch er saß auf meinem Rücken und peitschte wild fluchend auf mich ein. Ich hatte unbeschreibliche Schmerzen. Mein unbeschlagener Huf war entzwei und brach stückchenweise ab.
Nach einiger Zeit war der Schmerz nicht mehr auszuhalten. Ich knickte auf dem steinigen Untergrund ein und stürzte mit voller Wucht. Reuben flog mit voller Geschwindigkeit auf die steinige Straße. Ich stand wieder auf und humpelte an den Straßenrand. Inzwischen war der Mond hervorgekommen und ich blickte umher.
Reuben lag einige Schritte von mir entfernt - er musste schwer gestürzt sein. Ich sah, wie er vergeblich versuchte, sich aufzurichten. Er stöhnte laut und erbärmlich. Am liebsten hätte ich mit ihm gestöhnt, so sehr peinigten mich meine Verletzungen, doch wir Pferde erleiden unsere Qualen geduldig und schweigsam.
Inzwischen lag Reuben bewegungslos im Mondlicht und gab keinen Laut mehr von sich. Doch ich konnte nichts tun, als auf Hilfe zu warten. In dieser lauen Aprilnacht war es gespenstisch still, bis auf den Gesang einer Nachtigall. Still stand ich in der Dunkelheit und dachte an längst vergangene Tage, als ich noch neben meiner Mutter auf der saftigen Koppel bei Farmer Grey gelegen hatte.