Wie lange wir geschlafen haben, wusste ich nicht. Ich erwachte ausgeruht, jedoch mit einem Gefühl, als könne ich kaum atmen. Offenbar, war der Sauerstoff in unserem eisernen Gefängnis nahezu verbraucht.
So tief ich auch einatmete, meine Lungen wurden nicht ausreichend versorgt. Die Frage war, wie dieses Fahrzeug neuen Sauerstoff produzierte.
Als wir schon Erstickungs- und Angstgefühle bekamen, überschwemmte uns plötzlich ein Strom reiner, jodduftender Meeresluft. Völlig berauscht, füllten wir unsere Lungen.
"Jetzt fehlt nur noch eine ordentliche Mahlzeit", sagte Ned Land. "Aber wahrscheinlich lassen die uns in diesem Loch jämmerlich krepieren, diese Verbrecher."
"Meister Land, Ihre Einstellung ist zu aggressiv. Sie müssen sich zurückhalten, das bringt sonst nur Ärger."
"Im Gegenteil, Professor. Es muss sofort gehandelt werden. Ich werde uns aus diesem Gefängnis befreien. Wir werden das Kommando hier übernehmen und wieder nach Hause fahren."
"Sie wollen sich des Fahrzeugs bemächtigen? Hören Sie: Warten Sie damit noch ab! Wir wissen nicht, was man mit uns vorhat. Außerdem müssen wir uns erst einen Plan zurechtlegen und dafür müssen wir die Gewohnheiten an Bord auskundschaften. Sie müssen mir versprechen, nichts Unbedachtes zu tun, Ned Land!"
"Einverstanden", sagte der Kanadier brummig.
Wie ich es nicht anders erwartet hatte, hielt er sich nicht an unsere Abmachung. Ganz im Gegenteil. In Selbstgesprächen steigerte er sich derartig in seinen Zorn, dass er die Beherrschung verlor und mit den Fäusten gegen die eisernen Wände trommelte.
Allmählich verflüchtigte sich auch bei mir das Gefühl von Sicherheit, das ich bei der Begegnung mit dem Großen empfunden hatte. Meine Nervosität ließ mich erzittern und meine Phantasie malte wüste Bilder von einem Mann, der sich der Menschheit abgewandt hat und fähig war uns verhungern zu lassen ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.
Da hörte ich draußen ein Geräusch. Der Riegel wurde weggeschoben und der Steward trat ein. Er war noch nicht richtig drinnen, als sich Ned Land auf ihn stürzte und ihm die Kehle würgte. Conseil und ich gingen dazwischen um das Schlimmste zu verhindern.
Plötzlich ertönten Worte in meiner Muttersprache: "Beruhigen Sie sich, Ned Land! Und Sie, Herr Professor, hören Sie mich an!"
Der Große hatte gesprochen. Ned Land ließ von seinem Opfer ab und der Steward verließ ohne die Miene zu verziehen den Raum. Der Kommandant lehnte an der Tischkante und beobachtete uns mit seinem außergewöhnlichen Blick. Nach einer Weile begann er gelassen und doch eindringlich:
"Messieurs, ich spreche Französisch, Englisch und Deutsch. Ich hätte Ihnen also schon längst antworten können. Nachdem ich nach ihrer dreifachen Erzählung wusste, dass ich es mit Professor Aronnax vom Pariser Museum, seinem Diener Conseil und mit dem kanadischen Harpunier Ned Land von der Fregatte Abraham Lincoln zu tun habe, musste ich nachdenken, was ich mit Ihnen anfangen soll."
Er sprach mit einer Leichtigkeit und nahezu akzentfrei. Dennoch hatte ich das Empfinden, dass er nicht Franzose sei.
"Mit Ihrer Expedition sind sie in meine Nähe gekommen. Ich habe vor Jahren mit der Menschheit gebrochen und keiner weiß von meiner Existenz. Durch Ihre Jagd ist mein Dasein nun in Gefahr."
Ich versuchte mich zu rechtfertigen, dass wir nur hinter ihm her waren, weil wir annahmen einem Riesenmeeressäuger auf der Spur zu sein. Wie konnten wir wissen, dass es sich um ein Unterseeboot handelte. Aber diesen Einwurf ließ der Große nicht gelten.
"Eigentlich müsste ich Sie wie einen Feind behandeln. Ich hätte Sie ins Meer werfen können. Sie wären ertrunken und vergessen."
"So etwas machen nur Wilde, aber keine zivilisierten Menschen", sagte ich.
"Mein Herr Professor, ich bin kein zivilisierte Mensch. Aus Gründen die nur ich kenne lebe ich ihm Meer und hier gelten nur meine Regeln. Das Schicksal hat Sie an Bord meines Schiffes gebracht. Sie werden hier bleiben und können sich relativ frei bewegen. Aber dafür verlange ich ein Versprechen."
"Und das wäre?", fragte ich.
"Es könnte vorkommen, dass ich Sie für Stunden oder sogar Tage in die Kabine einschließen muss. Dabei möchte ich keine Gewalt anwenden und erwarte deshalb Gehorsam. Es geschieht zu Ihrem eignen Schutz. Sind Sie damit einverstanden?"
Dinge sollten an Bord vorgehen, die wir nicht sehen durften - was sollte das sein?
"Angenommen!", sagte ich, "aber definieren Sie das Wort Freiheit bitte etwas ausführlicher."
"Es sind dieselben Freiheiten, die meine Gefährten und ich haben. Sie dürfen sich an Bord frei bewegen."
"Das soll bedeuten, dass wir nie wieder nach Hause dürfen. Das ist nicht Ihr Ernst."
"Allerdings. Sie vergessen, dass Sie mich angegriffen haben. Damit sind Sie in den Besitz eines Geheimnisses gelangt, dass niemand auf der Welt erfahren darf. Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ich Sie wieder lebend auf die Erde entlasse, die mich nicht kennen darf!?"
"Also die Wahl zwischen Leben und Tod?"
"Richtig!"
"Dieses Versprechen werden meine Begleiter und ich niemals geben."
"Erlauben Sie mir, Professor Aronnax, Ihnen mitzuteilen, was ich zu sagen habe. Ich kenne Sie. In meiner Bibliothek steht ihr schönes Werk über die Tiefseefauna. Ein gutes und kluges Buch. Sie sind so weit vorgedrungen, wie Sie nur konnten. Die Reise mit meinem Schiff wird Ihnen allerdings eine neue Welt eröffnen. Ich habe vor, vielleicht ein letztes Mal, unter den Meeren um die Welt zu fahren, um meine Tiefseestudien abzuschließen.
Sie sollen als mein Studiengefährte daran teilhaben. Sie werden sehen, was noch nie ein menschliches Augen sah, und ich werde Ihnen die letzten Geheimnisse unseres Planeten enthüllen."
"Ich nehme an, Monsieur", antwortete ich. "Aber eine Frage habe ich noch. Mit welchem Namen dürfen wir Sie ansprechen?"
"Ich bin Kapitän Nemo, und dieses Schiff ist die Nautilus."
Er rief den Steward und dieser brachte Ned Land und Conseil in eine Kabine, wo ein Menü auf sie wartete. Auch ich wurde zum Essen eingeladen; bei Kapitän Nemo persönlich. Er führte mich durch einen zehn Meter langen Gang in den Speisesaal, der festlich dekoriert war.
Der Tisch in der Mitte war reich gedeckt. Nemo wies mir meinen Platz und forderte mich auf zuzugreifen. Am Jodgeschmack der Speisen konnte ich erkenne, dass sie alle aus dem Meer waren. Nemo erklärte mir, dass die Speisen allesamt gesund und nahrhaft seien. Alles, was er und seine Mannschaft aßen, holten sie sich aus dem Meer.
Es gab Meerschildkröte, Delfinleber, die wie Schweineragout schmeckte, eingemachte Seegurke und sogar Sahne, die er aus Seesäugermilch gewann. Als Nachtisch reichte er mir Seeanemonenkonfekt. Während ich alles probierte, erklärte mir der Kapitän, dass sie sogar die Kleidung aus dem Meer gewannen.
Die Stoffe sind aus Fasern einiger Muscheln gewebt. Parfüm aus Seepflanzen destilliert. Das Bett, die Schreibutensilien alles aus dem Meer.
"Sie sind ein großer Freund des Meeres, Kapitän", sagte ich.
"Oh ja. Ich liebe es. Das Meer bedeckt sieben Zehntel der Erdoberfläche. Es ist die lebendige Unendlichkeit. Professor, alle drei Reiche der Natur sind hier vertreten: Steine, Pflanzen, Tiere. Der Reichtum der Fauna ist unerschöpflich. 13 000 Gattungen sind unter Wasser heimisch davon nur zehn Prozent im Süßwasser.
Hier haben Tyrannen keine Macht. Hier allein kenne ich keinen Herrn. Hier bin ich fei!"