»Das sind Szenen«, sagte er, die Arme kreuzend, »die den guten Bernardin de Saint-Pierre, den Autor von ›Paul und Virginie‹, zu seinen schönsten Stellen hätten inspirieren können. Wie schön ist die Jugend, Madame Couture! Armes Kind, schlafe nur«, sagte er, Eugen betrachtend, »das Glück kommt manchmal im Schlafe. Madame«, wandte er sich an die Witwe, »das, was mich an diesem jungen Mann festhält, das, was mich so bewegt, ist, daß die Schönheit seiner Seele im Einklang mit der seiner Gestalt steht. Ist er nicht wie ein Cherub, der sich auf die Schulter eines Engels stützt? Der ist es wert, geliebt zu werden. Wenn ich eine Frau wäre, möchte ich für ihn sterben – nein, so dumm sind wir nicht –, möchte ich für ihn leben. Wenn ich sie so sehe«, sagte er dann weiter leise der Witwe ins Ohr, »kann ich nur glauben, daß Gott sie füreinander geschaffen hat. Die Vorsehung geht verborgene Wege, sie prüft die Herzen und Nieren«, fuhr er laut fort. »Wenn ich euch so vereinigt sehe, meine Kinder, vereinigt durch die gleiche Reinheit des Herzens, durch alle schönen menschlichen Gefühle, so sage ich mir: Es ist unmöglich, daß ihr jemals in Zukunft getrennt werden könnt. Gott ist gerecht. Halt«, sagte er zu dem jungen Mädchen, »ich glaube, ich habe in Ihrer Hand Glückslinien gesehen. Geben Sie mir Ihre Hand, Fräulein Victorine, ich kenne mich aus im Handdeuten, ich habe oft richtig vorhergesagt. Na, haben Sie nur keine Furcht. Oh! Was sehe ich? Auf mein Ehrenwort, Sie werden binnen kurzem eine der reichsten Erbinnen von Paris sein. Sie werden den, der Sie liebt, glücklich machen. Ihr Vater wird Sie wieder bei sich aufnehmen. Sie werden einen jungen, schönen, adligen Herrn heiraten, der Sie vergöttert.«
Die schweren Schritte der koketten Madame Vauquer unterbrachen die Prophezeiungen Vautrins.
»Da ist ja Mama Vauquer, schön wie ein Stern, geschnürt wie eine Wespe. Na, geht es auch mit dem Atmen?« fragte er, ihr die Hand auf die Büste legend. »Ein bißchen stark geschnürt, Mama! Wenn wir weinen, gibt es eine Explosion, ich muß dann mit der Sorgfalt eines Altertumsforschers die Trümmer zusammensuchen.«
»Der weiß, wie man sich bei uns in Frankreich galant ausdrückt«, sagte die Witwe, sich geschmeichelt fühlend, leise zu Madame Couture.
»Adieu, liebe Kinder«, rief Vautrin Eugen und Victorine zu. »Ich segne euch«, sagte er, ihnen die Hand auf den Kopf legend. »Glauben Sie, mein Fräulein, das heißt etwas: die Segenswünsche eines ehrlichen Mannes. Sie bringen Glück, Gott hört sie.«
»Adieu, teure Freundin«, sagte Madame Vauquer zu ihrer Pensionärin. Dann fügte sie leise hinzu: »Glauben Sie, daß Vautrin ein Auge auf mich geworfen hat?«