Um diese Zeit hatte nun Rastignac sein ganzes Geld verspielt und Schulden aufgenommen. Der Student begann zu begreifen, daß es ihm unmöglich sein würde, dieses Leben ohne feste Einnahmen fortzuführen. Aber sosehr er auch unter dem Druck seiner zweifelhaften Lage seufzte, er fühlte nicht die Kraft, auf die Freuden dieses ausschweifenden Lebens zu verzichten, und wollte es um jeden Preis weiterführen. Die Glücksfälle, auf die er seinen zukünftigen Reichtum aufgebaut hatte, erwiesen sich als trügerisch, und die wirklichen Hindernisse wuchsen. Als ihm die Geheimnisse des Hauses Nücingen erschlossen wurden, hatte er eingesehen, daß man, um aus der Liebe Kapital zu schlagen, sich zuvor auf das tiefste erniedrigen und auf alle edlen Ideen verzichten mußte, die allein eine Vergebung der Jugendsünden begründen können. So war sein Leben nach außen hin glänzend, nach innen von Gewissensqualen zernagt. Die flüchtigen Freuden waren mit dauernden Ängsten teuer bezahlt. Aber er hatte sich an dieses Leben nun einmal gewöhnt. Er hatte sich in Leiden verwickelt und sich, wie der Zerstreute La Bruyères, ein Bett im Schlamm des Straßengrabens gemacht; aber er hatte, wie der Zerstreute, einstweilen nur seine Kleidung beschmutzt. –
»Also der Mandarin ist doch tot?« sagte eines Tages Bianchon, als er vom Tisch aufstand.
»Noch nicht«, erwiderte Rastignac, »aber er röchelt schon.«
Der junge Mediziner hielt diese Antwort für einen Scherz. Aber es war Ernst. Eugen, der zum ersten Male seit langer Zeit wieder in der Pension gegessen hatte, war während der Mahlzeit sehr nachdenklich gewesen. Statt nach dem Dessert aufzustehen, blieb er neben Fräulein Taillefer sitzen, der er von Zeit zu Zeit vielsagende Blicke zuwarf. Einige Pensionäre saßen noch bei Tisch und aßen Nüsse, andere spazierten im Zimmer umher, um eine begonnene Unterredung fortzuführen. Wie fast alle Abende, erhob sich jeder nach seiner Laune, je nach dem Grad seines Interesses an der Unterhaltung oder nach dem Stand seiner Verdauung. Im Winter war es selten, daß das Speisezimmer vor acht Uhr völlig geräumt war. Schließlich blieben noch die vier Frauen zusammen und rächten sich an dem Schweigen, das ihrem Geschlecht von der männlichen Gesellschaft auferlegt war. Vautrin, den die nachdenkliche Stimmung Eugens interessierte, blieb gleichfalls im Speisezimmer, obwohl er es anfangs sehr eilig zu haben schien. Er hielt sich so, daß Eugen, der glauben sollte, er habe das Zimmer verlassen, ihn nicht sehen konnte. Statt mit den letzten Pensionären fortzugehen, blieb er im Salon. Er hatte in der Seele des Studenten gelesen und Symptome bemerkt, die auf eine Entscheidung deuteten.
Rastignac war in der Tat in einer verzwickten Lage, wie sie so viele junge Leute kennenlernen. Madame de Nücingen, sei es aus Verliebtheit oder aus Koketterie, hatte alle Methoden der in Paris üblichen weiblichen Diplomatie gegen ihn angewandt und ihn durch alle Ängste einer wirklichen Leidenschaft gejagt. Nachdem sie sich in den Augen des Publikums kompromittiert hatte, um den Vetter der Madame de Beauséant an sich zu fesseln, zögerte sie, ihm die Rechte einzuräumen, die er schon zu genießen schien. Seit einem Mo
nat reizte sie die Sinne des Studenten so, daß schließlich auch das Herz nicht verschont blieb. Wenn Eugen in den ersten Momenten der Liaison der Meister zu bleiben geglaubt hatte, so hatte sich bald Madame de Nücingen als die Stärkere erwiesen. Sie brachte bei Eugen alle Gefühle, gute oder schlechte, in Bewegung, die zwei oder drei verschiedenen Seelen, die ein junger Pariser nun einmal hat. War es bei ihr Berechnung? Nein. Die Frauen sind immer wahr, selbst wenn sie noch so falsch sind, weil sie immer einem natürlichen Gefühl folgen. Vielleicht gehorchte Delphine, die einen Augenblick lang dem jungen Manne zu viel Macht eingeräumt und ihm eine zu große Zuneigung bewiesen hatte, einem Gefühl der Würde, das sich den Zusagen widersetzte oder doch ihre Erfüllung aufschob. Es ist so natürlich für eine Pariserin, selbst im Augenblick, wo die Leidenschaft sie fortreißt, zu zögern, das Herz des Mannes zu prüfen, dem sie ihre Zukunft ausliefert. Die Hoffnungen der Madame de Nücingen waren bereits ein erstes Mal verraten worden, und der junge Egoist, dem ihre Treue galt, hatte sie verschmäht! Sie hatte daher ein gutes Recht, mißtrauisch zu sein. Vielleicht hatte sie auch im Wesen Eugens, den sein schneller Erfolg eitel gemacht hatte, eine Art von Mißachtung entdeckt, die durch die Eigenart ihrer beiderseitigen Situation erklärt werden konnte. Sie wollte ohne Zweifel ihrem jugendlichen Freund impo
nieren und groß erscheinen, nachdem sie so lange vor dem, der sie verlassen hatte, klein gewesen war. Sie wollte nicht, daß Eugen sie für eine leichte Eroberung hielt, gerade weil er wußte, daß sie de Marsey angehört hatte. Schließlich: Nachdem sie die entwürdigenden Lüste eines jugendlichen Libertins – ein Begriff, der wirklich eine Monstrosität darstellt – genossen hatte, war es für sie eine Wohltat, sich in den blumigen Gefilden einer wahren Liebe zu ergehen, alle ihre Erscheinungsformen zu bewundern, ihre zarten Schauer zu belauschen und sich von ihren keuschen Brisen streicheln zu lassen. Die wirkliche Liebe büßte für die falsche. Dieser Widersinn wird leider noch oft zu finden sein, solange die Männer nicht wissen, wieviel Blumen in der Seele einer Frau durch den ersten Betrug niedergemäht werden.