Eugen wirft die 100 Francs auf die Ziffer seines Lebensjahres 21. Ein Ruf des Erstaunens wird laut, ohne daß er Zeit gehabt hat, sich zurechtzufinden. Er hat gewonnen, ohne es zu wissen.
»Ziehen Sie Ihr Geld ein«, sagt ihm der alte Herr, »man gewinnt nicht zweimal mit diesem System.«
Eugen nimmt einen Rechen, den ihm der alte Herr reicht, zieht die 3600 Francs ein und setzt sie – immer noch ohne etwas vom Spiel zu wissen, auf rot. Die Zuschauer, die sehen, daß er weiterspielt, betrachten ihn mit Neid. Das Rad dreht sich, er gewinnt noch einmal, und der Croupier wirft ihm wieder 3600 Francs zu.
»Sie haben jetzt 7200 Francs«, sagt ihm der alte Herr ins Ohr. »Wenn Sie mir glauben wollen, so rate ich Ihnen, gehen Sie fort. Rot ist schon achtmal herausgekommen. Wenn Sie ein mitleidiges Herz haben, so werden Sie diesen guten Rat belohnen und das Elend eines alten Präfekten Napoleons lindern, der sich in der größten Not befindet.« Rastignac, ganz betäubt, läßt sich von dem Herrn im weißen Haar 10 Louis abnehmen und steigt mit seinen 7000 Francs die Treppe hinab, immer noch ohne eine Ahnung von dem Spiel, aber wie benommen von seinem Glück.
»Und nun? Wohin jetzt?« fragte er Madame de Nücingen und zeigte ihr die 7000 Francs. Delphine umschlang ihn in einer tollen Umarmung und küßte ihn stürmisch, aber ohne Leidenschaft.
»Sie haben mich gerettet!« Freudentränen liefen ihr über die Wangen.
»Ich will Ihnen alles erzählen, mein Freund, denn Sie sind doch mein Freund, nicht wahr? Sie sehen mich in Reichtum und Überfluß, nichts mangelt mir, oder es scheint doch wenigstens so. Nun also, Sie müssen wissen, daß Herr von Nücingen mich nicht über einen Sou verfügen läßt. Er bezahlt den Haushalt, meinen Wagen und meine Logen, aber für meine Toiletten weist er mir nur eine ungenügende Summe an, er setzt mich aus Berechnung einem geheimen Elend aus. Ich bin zu stolz, um zu betteln. Wäre ich nicht das erbärmlichste Geschöpf, wenn ich für sein Geld den Preis zahlte, den er fordert? Wie kommt es, daß ich, die ich über 700 000 Francs verfügte, mich meines Vermögens habe berauben lassen? Aus Stolz, aus Ekel! Wir sind so jung und unerfahren, wenn wir in die Ehe treten! Das Wort, mit dem ich meinen Gatten um Geld bitten müßte, würde mir im Munde steckenbleiben. Ich habe es niemals gewagt. Ich habe meine Ersparnisse verzehrt und das Geld, das mir mein armer Vater gab. Später habe ich Schulden gemacht. Die Ehe ist für mich die schrecklichste Enttäuschung, ich kann zu Ihnen nicht darüber sprechen. Möge es Ihnen genügen, zu wissen, daß ich mich eher aus dem Fenster stürzen würde, als die Trennung der Schlafzimmer aufzugeben. Als ich ihm die Schulden der ersten Zeit beichten mußte, für Schmucksachen und andere Dinge, die ich gern hatte (unser armer Vater hatte uns daran gewöhnt, alles zu bekommen, was wir wünschten), habe ich ein Martyrium durchgemacht. Schließlich habe ich den Mut gefunden zu sprechen. Gehörte mir nicht mein Vermögen? Nücingen wurde aufgebracht, er sagte, ich ruiniere ihn . . . Es war furchtbar! Ich wäre lieber hundert Fuß unter der Erde gewesen. Da er meine Mitgift an sich genommen hatte, zahlte er schließlich, aber er setzte mir für die Zukunft für meine persönlichen Ausgaben einen festen Betrag aus, mit dem ich mich, um Frieden zu haben, einverstanden erklären mußte. Später wollte ich die Eigenliebe eines Mannes, den Sie kennen, nicht verletzen. Mag ich auch von ihm betrogen worden sein, so muß ich doch der Vornehmheit seines Charakters Gerechtigkeit zollen. Aber schließlich hat er mich treulos verlassen! Man dürfte niemals eine Frau aufgeben, der man an einem Tage der Not einen Haufen Gold hingeworfen hat. Man müßte sie immer lieben! Sie, eine schöne Seele von 21 Jahren, Sie, der Sie jung und rein sind, Sie werden mich fragen, wie eine Frau Geld von einem Manne annehmen kann. Mein Gott, ist es nicht natürlich, mit dem Wesen, dem wir unser Glück verdanken, alles zu teilen? Wenn man sich alles gegeben hat, wie kann man sich dann über eine Kleinigkeit beunruhigen? Das Geld bekommt nur dann Wert, wenn das Gefühl nicht mehr da ist. Ist man nicht fürs Leben verbunden? Wer sieht eine Trennung voraus, wenn man sich heiß geliebt glaubt? Sie wissen nicht, wie ich heute gelitten habe, als Nücingen mir hartnäckig die 6000 Francs verweigerte. Er, der die gleiche Summe jeden Mo
nat seiner Geliebten, einer Statistin an der Oper, gibt! Ich wollte mir das Leben nehmen. Die tollsten Gedanken gingen mir durch den Kopf. Es gab Augenblicke, wo ich das Los eines Dienstboten, das meiner Kammerzofe beneidete. Meinen Vater aufsuchen? Torheit! Anastasie und ich, wir haben ihn bereits zugrunde gerichtet; mein Vater hätte sich verkauft, wenn er 6000 Francs wert wäre. Ich hätte ihn nur umso
nst zur Verzweiflung gebracht. Sie haben mich von der Schande und vom Tode errettet. Ich war irre vor Schmerz. Ach, ich war Ihnen diese Erklärung schuldig; ich habe mich wirklich wie toll Ihnen gegenüber benommen. Als Sie den Wagen verlassen hatten und ich Sie nicht mehr erblickte, wollte ich zu Fuß fortlaufen. Ich wußte selbst nicht wohin. Da haben Sie das Leben der Hälfte aller Pariserinnen: nach außen Luxus, grausame Sorgen im Herzen. Ich kenne arme Geschöpfe, die noch unglücklicher sind als ich. Es gibt Frauen, denen ihre Lieferanten gefälschte Rechnungen schicken müssen. Andere müssen ihren Gatten gestehen; die einen glauben, daß ein Kaschmir für 100 Louis nur 500 Francs kostet, die anderen bezahlen statt 500 Francs 100 Louis. Es gibt arme Frauen, die ihre Kinder hungern lassen und die Sous zusammenkratzen, um sich ein Kleid zu kaufen. Ich halte mich von diesen häßlichen Betrügereien fern. Da haben Sie meine ganze Not! Aber wenn sich andere Frauen an ihre Männer verkaufen, um sie zu beherrschen, so bin ich wenigstens frei! Ich könnte mich von Nücingen in Gold hüllen lassen – ich ziehe es vor, am Herzen des Mannes zu weilen, den ich achten kann. Ah! Heute abend wird Herr de Marsey mich nicht als eine Frau betrachten können, die er bezahlt hat.«