Aufbau kann auch Abriss bedeuten: Ostdeutschland steht zwanzig Jahre nach der Wende noch immer vor großen bevölkerungspolitischen Problemen. Einige Großstädte boomen – die ländlichen Regionen leiden.
Blühende Landschaften in Ostdeutschland versprach der ehemalige Kanzler Helmut Kohl einst im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung. Und man kann sie auch finden: in und um Berlin, Dresden, Leipzig, Erfurt. Anderswo blüht Unkraut vor zugemauerten Eingängen und zerstörten Fenstern. 1,3 Millionen Wohnungen stehen in Ostdeutschland leer. 350.000 Wohnungen sollen bis 2010 abgerissen sein.
Die Bevölkerung Ostdeutschlands könnte sich laut Prognose bis 2050 halbieren. Dabei schrumpfen vor allem industrialisierte Mittelstädte wie etwa Eisenhüttenstadt. Seit 1990 ist dort die Einwohnerzahl von über 50.000 auf 33.000 gesunken. Auch den ländlichen Regionen bleibt wenig Hoffnung. Manche Dörfer und Kleinstädte werden langfristig kaum überleben.
Auf der Suche nach Arbeit verlassen besonders die Menschen mit hoher Bildung ihre Heimat. Und das sind vor allem junge Frauen, denn die machen in den neuen Bundesländern doppelt so häufig Abitur wie Männer. Sie finden anderswo gute Jobs und zu Hause immer weniger Partner, die das gleiche Bildungsniveau haben. Auch deshalb sinkt die Zahl der Geburten immer weiter – und dabei werden schon heute nirgendwo in Europa weniger Kinder geboren als in Ostdeutschland. Die Abwärtsspirale dreht sich. Schulen und Läden schließen, Häuser stehen leer, Wohnungen verfallen.
Schwarzsehen will man im Osten aber nicht. Und tatsächlich könnte im Schrumpfen eine Chance liegen, meint Philipp Oswalt vom internationalen Projekt "Shrinking Cities". "Der Prozess der vergangenen Jahre bringt Ostdeutschland sogar einen Entwicklungsvorsprung", sagt der Architekt. Denn auch in Westdeutschland schrumpft die Bevölkerung. Ostdeutschland zeigt wie im Zeitraffer, was auch in Teilen Westdeutschlands ablaufen wird, so Oswalt.
Glossar
Abriss, der – hier: das Kaputtmachen z. B. von einem Gebäude; hierzu: etwas abreißen
Wende, die – hier: die friedliche Revolution in der ehemaligen DDR 1989/1990
etwas boomt – etwas (z. B. die Wirtschaft) wächst stark; etwas entwickelt sich sehr gut
anderswo – an einem anderen Ort
etwas zumauern – eine Öffnung in einer Mauer mit Steinen zumachen
laut – hier: nach Angaben von; wie jemand gesagt oder geschrieben hat
Prognose, die – eine Aussage darüber, wie sich etwas in der Zukunft entwickeln wird
etwas halbieren sich – etwas wird um die Hälfte kleiner oder weniger
etwas schrumpft – etwas wird kleiner oder weniger
Mittelstadt, die – eine Stadt mit einer Einwohnerzahl von 20.000 bis 100.000
langfristig – hier: auf einen längeren Zeitraum bezogen; auf lange Sicht
neuen Bundesländer, die – die fünf östlichen Länder der Bundesrepublik Deutschland auf dem Gebiet der ehemaligen DDR
Abwärtsspirale, die – eine negative Entwicklung, die sich selbst immer wieder verstärkt
etwas verfällt – hier: etwas (ein Haus, Gebäude) geht langsam kaputt
schwarzsehen – die Entwicklungen in der Zukunft negativ beurteilen
Shrinking Cities – englisch für "schrumpfende Städte"
Vorsprung, der – der Abstand, den jemand/etwas vor jemand/etwas anderem hat
Zeitraffer, der – ein zeitlicher Ablauf von Ereignissen (im Film), der schneller ist als in der Wirklichkeit
etwas läuft ab – hier: etwas passiert (über einen längeren Zeitraum); etwas geschieht